Bionik, die Wissenschaft vom Lernen aus der Natur, hat bereits viele industrielle Innovationen hervorgebracht, die oft unbemerkt bleiben. Prof. Dr. Peter M. Kunz, Gründer von Bionik Mannheim, erläutert in diesem Interview die Bedeutung bionischer Ansätze für die nachhaltige Entwicklung und die Industrie. Er gibt Einblicke in das Netzwerk für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg und erklärt, wie junge Menschen durch bionische Denkansätze befähigt werden, innovative Lösungen zu entwickeln. Erfahren Sie mehr über die faszinierenden Beispiele bionischer Innovationen und die Ziele des Netzwerks.
Das Interview führte Dr. Etwina Gandert, Chefredakteurin CITplus.
Interview mit Prof. Dr. Peter M. Kunz, Gründer von Bionik Mannheim, über die Bedeutung bionischer Entwicklungen für die Industrie und Nachhaltigkeit.
Inhalt:
- Interview mit Prof. Dr. Peter M. Kunz, Gründer von Bionik Mannheim, über die Bedeutung bionischer Entwicklungen für die Industrie und Nachhaltigkeit.
- Wissen erleben
Ein Kongress für 150 junge Leute gänzlich ohne Powerpoint-Vorträge - Aus der Komfortzone in das gemeinschaftliche Erleben
- Aus der Natur gelernt

CITplus: Welche Bedeutung hat Bionik für die industrielle, nachhaltige Entwicklung?
Prof. Dr. Peter M. Kunz: Es gibt Dutzende von bionisch entwickelten, industriellen Produkten, die meistens gar nicht als solche beworben werden. Das hängt vermutlich damit zusammen, weil die „Bionik“ für die meisten Menschen „exotisch“ klingt und eher als „spinnert“ begriffen wird, da sie von Vertretern der deutschen Bionik wissenschaftlich hochstilisiert wurde. Das Netzwerk für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg ist allerdings der Auffassung, dass jeder in der Lage ist, aus der Natur zu lernen, um Produkte, Prozesse und Verfahren zu entwickeln. Die jüngst erfolgte Ausschreibung zum 1. Award für bio-inspirierte Innovationen Baden-Württemberg will aufzeigen, dass es weit über 100 Innovationen allein in Baden-Württemberg gibt, die von der Natur inspiriert sind. Die Natur ist grundsätzlich nicht nachhaltig, man denke da nur an den vermeintlich verschwenderischen Umgang des Pfaus mit seinen Ressourcen oder den giftigen Schirling, den Sokrates vom Leben zum Tod befördert hat. Allein wenn man den Sinn nicht begreift, der hinter dem Unsinn der Natur steckt, heißt das noch nicht, dass es wirklich Unsinn ist: in den allermeisten Fällen sind die evolutiv optimierten natürlichen Prozesse und Produkte erkennbar nachhaltig, wenn man Energie- und Ressourcen-Effizienz bewertet.
Welche Beispiele gibt es für bionisch inspirierte Innovationen in industriellen Anwendungen – insbesondere mit Blick
auf die Prozessindustrie?
Prof. P. M. Kunz: Aus der molekularen Bionik gibt es ein gutes Dutzend von bionischen Entwicklungen, wie bionisch entwickelte Entroster, Entfernung von Rouging in Heißwasser-sanitisierten Pharma-Rohrleitungen, Reinigung von Schweißnähten an Edelstahl-Anwendungen zur Substitution von Flusssäure, die als Produkte am Markt verfügbar sind. Auch sind enzymatische Reiniger am Markt verfügbar, die beim Heiß- und Kaltentfetten beziehungsweise nach Anwendung von Polierpasten beim Trovalisieren von Oberflächen aus Riefen und Nuten entfernt werden müssen.
In der Oberflächen-Bionik ist die Anwendung des Lotus-Effekts wohl heute die bekannteste und weitreichendste: von Wandfarben bis Keramik-Oberflächen, die sich ohne Chemikalien durch einen Wasserstrahl beziehungsweise Regenwasser reinigen lassen, wenn der Wasserstrahl die Oberfläche erreicht. Genial ist, dass es inzwischen einen Lack gibt, der Oberflächen rasant ohne Energiezufuhr trocknet. Die Hai-Haut und weitere Oberflächenmodifikationen, die das Anwachsen von Muscheln an Schiffsrümpfen oder die Strömungseigenschaften an Schwimmsportler-Anzügen oder Flugzeugrümpfen verbessern sind eigentlich bekannt. Weniger bekannt sind die quasi geräuschlosen Ventilatoren, die ursprünglich zur Kühlung der Leuchtelemente in Konzertsälen, von der Eule gelernt, entwickelt wurden: heute sind sie in den Wärmepumpenanlagen eingebaut, die als geräuschlos angeboten werden – und es auch sind.
Der Klettverschluss ist allgemein bekannt: weniger bekannt ist die Top-down-Entwicklung des Gecko-Taps, der in unzähligen, nicht für den Laien sichtbaren Anwendungen zu finden ist: in der Medizintechnik wie im Automobil- oder Eisenbahnbereich: wo früher genietet wurde, wird heute getapt.
In der Konstruktionsbionik hat es mit der SKO-Methode begonnen, die heute jeder Entwickler bei der Topologie-Optimierung nutzt, ohne zu wissen, dass sie aus der Natur von der Statik der Bäume gelernt wurde. Eine Ausprägung ist hier auch der Leichtbau: verkürzt ausgedrückt ist vielfach ein Knochen das Vorbild, menschliche Knochen aber auch jene zum Beispiel von Vögeln. Bekannte Hallendächer wie das Münchner Olympia-Stadion oder der Stuttgarter Fernsehturm sollen von Blattstrukturen oder Grashalmen bio-inspiriert gewesen sein.
In der „medizinischen“ Bionik ist die Liste der bionischen Entwicklungen sehr lang – genial ist doch ein Bohrer, der rechteckige Löcher bohren kann, damit sich Implantate nicht mehr verdrehen können – und die Robotik, bei der zum Beispiel die menschliche Hand oder auch nur Zwei-Finger-Systeme implementiert werden. Das Greifen unterschiedlicher Geometrien ist eine Herausforderung: die Bionik hat diverse Lösungen gefunden: dem Elefanten-Rüssel haben sie es abgeschaut.
Wie lassen sich solche Innovationen fördern und was unterscheidet die bionischen Denkansätze von klassischer F&E?
Prof. P. M. Kunz: Das Netzwerk für Bionische Entwicklungen BW hat es sich zur Aufgabe gemacht, junge Menschen mit einem überschaubaren methodischen Arbeitskoffer zu befähigen, selbst bionisch zu entwickeln, wenn eine Fragestellung neu gestellt wird. Bionische Denkansätze ergänzen die klassische F&E dahingehend, dass die Entwickler dahin geführt werden, des „Pudels Kern“ der Aufgabe zu finden: wenn dieser gefunden und beschrieben ist, wird die Frage gestellt, wo in der Natur gibt es eine evolutiv optimierte Lösung, wie beispielsweise zum geräuschlosen Ventilator. Die Abstraktion war der Ventilatorflügel. Bis „Energieaufwand“ mit „Geräusch“ verbunden die „Pudels Kern“ Frage war: Wo in der Natur gibt es geräuschloses Fliegen; die Eule würde verhungern, wenn sie nicht geräuschlos ihre nächtliche Beute anfliegen kann. Ergo wurden Eulenflügel untersucht, was die Wirbelbildung, beziehungsweise -vermeidung anbelangt, die zu Geräuschen führt.
Welches Ziel verfolgt das Netzwerk und wie ist es aufgestellt?
Prof. P. M. Kunz: Im Oktober 2024 wurde von über 30 Mitgliedern, davon zehn aus Unternehmen, das „Netzwerk für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg“ als eingetragener Verein gegründet. Die Mitglieder im Netzwerk sind überzeugt, dass die belebte Natur der beste Lehrmeister für nachhaltige und ressourceneffiziente Entwicklungen ist. Ziel ist es, die Umsetzung der Prinzipien der Natur in allen Bereichen des produktiven Zusammenlebens zu fördern und wo immer möglich, in den Köpfen als mögliche Quelle für Neues zu etablieren. Dabei setzen die Mitglieder des Netzwerks den besonderen Fokus auf die Ausbildung und Weiterqualifizierung junger Menschen.
Das Netzwerk schreibt aktuell den ersten Baden-Württembergischen Preis – Award – für Innovationen aus, die aus der Natur inspiriert/ gelernt wurden. Bewerben können sich Personen und Vertreter von Unternehmen und Institutionen, die ihren Sitz in Baden-Württemberg haben. Idee für diese Ausschreibung ist es, alle bisher in Baden-Württemberg gemachten, Innovationen, die in irgendeiner Art und Weise aus der Natur gelernt wurden, allgemein, insbesondere aber jungen Menschen sichtbar zu machen. Das Netzwerk will ein Schaufenster zu den bio-inspirierten/bionischen Entwicklungen aus Baden-Württemberg aufmachen – als Katalog herausgeben –, um viele weitere bio-inspirierte/bionische Entwicklungen in Baden-Württemberg für eine nachhaltige, wirtschaftliche Zukunft anzustoßen. Vergeben wird der Preis auf dem Gala-Abend vor dem 6. Bionik-Kongress Baden-Württemberg, der übrigens ohne einen einzigen PowerPoint-Vortrag auskommt.
Wissen erleben
Ein Kongress für 150 junge Leute gänzlich ohne Powerpoint-Vorträge

Wer schon ´mal einen Kongress besucht hat, hat eigene Erfahrungen, wie man in vollen, abgedunkelten Sälen mit endlosen PowerPoint (PPt)-unterstützten Vorträgen Menschen „entgeistert“. Auch wenn die PPTs mit Bild-Effekten aufgepeppt und vielleicht durch Videos unterstützt etwas Lebendigkeit zu den noch zuhörenden Menschen bringen, ist der Wissensbehalt über die gecateringten Pausen gering. Mal ehrlich, wenn Sie einem Kollegen eine Woche später vom Ihrem Kongress-Besuch berichten, fallen Ihnen wahrscheinlich zuerst nur die köstlichen Häppchen während der Pausen und vielleicht Gesprächsfetzen mit anderen Kongress-Teilnehmenden ein, neben den Videos vielleicht noch, wenn es nicht zu viele und nicht zu dicht gedrängte gewesen sind. Die Neurobiologie erforscht laufend, wieso das so ist (Corona war eine geniale Inszenierung für Studien zum virtuellen Wissenserwerb), die (Neuro-)Didaktik erklärt heute, was Didaktiker schon vor mehr als hundert Jahren wussten und in den sogenannten alternativen Schulformen ausprobierten und anwendeten.
Aus der Komfortzone in das gemeinschaftliche Erleben
Kongresse der oben beschriebenen Art sind für die Generation TikTok (man nennt sie auch Generation Tablet oder Z) bestimmt nicht mehr attraktiv, zumal diese Generation täglich mehr als zehn Stunden zweidimensional vor Bildschirmen ausharren kann, ohne zu ermüden. Auch Netzwerkgespräche an Stehtischen finden sie ätzend, weil die Community zu klein, die Menschen, die sich da gegenüberstehen, nicht in die eigene „Blase“ passen und man auch nicht geübt hat, in Rede und Gegenrede alternative Gedanken zu thematisieren: digitales Null oder Eins – dafür oder dagegen – macht das Leben eben einfacher. Junge Menschen wägen sehr gut ab, ob sie ihre Lebenszeit opfern wollen, z. B. für Fahrten zu Besprechungen oder eben ätzende Vortragsveranstaltungen. Wenn im Homeoffice „Hotel Mama“, in dem auch noch lecker gekocht wird, ein kuscheliger Computerarbeitsplatz steht, ist es quasi unmöglich, sich aus dieser Komfortzone herauszuschälen.
Junge Menschen kennen einfach vielfach nicht die schönen Momente von Erlebnisräumen, die wir vor etwa 50 Jahren in Gemeinschaftsräumen bei den Pfadfindern oder anderen Organisationen erleben durften, die uns Heranwachsende in der Pubertät Selbstsicherheiten im weltlichen Diskurs mit anderen gegeben haben. Wie wenige (unideologisch verbrämte) Möglichkeiten dafür gibt es heute eigentlich noch? In den Wald-Kindergärten, den Montessori-Schulen oder den Freien Alternativschulen können die Kinder spielerisch und haptisch sich bilden und ihre Selbstwirksamkeit kennen lernen.
Aus der Natur gelernt
Ein Bionik-Kongress, übrigens der 6., der zum Ziel hat, junge Menschen zu befähigen, selbständig „aus der Natur gelernt“ Innovationen zu entwickeln, der kann gar nicht anders als in kleinen Gruppen (5er-Teams) in spezifischen Themenfeldern á 25 Teilnehmenden junge Menschen in sechs parallelen Foren Erlebnisräume aufzuspannen, die über drei Stunden spannend die Teilnehmenden in den Informations- zum Wissenstransfer einspannen. Anhand von Übungsaufgaben im Team, wie z. B. aus Spaghetti und Heißkleber-Pistole als Ausgangsmaterial eine Leichtbaubrücke zu bauen oder aus Papierstreifen ein haptisches Modell zu generieren, das die im Mikroskop betrachtete „Salvinia“, widerspiegelt oder nach Fehlversuchen zu erlernen, wie man Papierflieger bauen kann, die entweder weit fliegen können oder schöne Loopings machen.
Da das Ganze wettbewerblich zwischen den Teams oder den Einzelpersonen abläuft und die besten oder schnellsten abgelieferten Ergebnisse mit Preisen honoriert werden, kann man als Veranstalter sich sehr sicher sein, dass das Gesagte, Gezeigte und Demonstrierte in jedem Kopf verankert sein wird – wahrscheinlich auch sehr lange. Alles, was man selbst erarbeitet hat, weiß man doch schon lange, bleibt länger haften… Wieso also nicht sich ein paar mehr Gedanken machen, wie der Wissenstransfer erfolgreich erfolgen kann?
Das Netzwerk für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg verfolgt genau dieses: junge Menschen, die eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben, zu qualifizieren.
Mehr Informationen dazu: [email protected]
6. Bionik-Kongress Baden-Württemberg
Eine Veranstaltung des Netzwerks für Bionische Entwicklungen Baden-Württemberg e.V. i.G., durchgeführt von bionik-mannheim.de
Termin: 5. Mai 2025 Galaabend,
6. Mai 2025 Kongress
Ort: John Deere Forum Mannheim, Mannheim
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