Energieeinsparung ist ein wichtiger Schlüssel

Am 23. Juni 2022 rief Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas aus. Mit Blick auf eine stabile Versorgung der Menschen in Deutschland mit Lebensmitteln und Getränken müssen neben der Produktion auch der Bedarf im Verpackungs- und Logistiksektor berücksichtigt werden. Was sind die Konsequenzen aus der unsicheren Gasversorgung für die Lebensmittelindustrie und welche Handlungsoptionen verringern ihre Abhängigkeiten? Dies erfragte Peter Feller, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, in einem Interview mit Prof. Dr.-Ing. Jörg Meyer, Leiter des SWK E²-Instituts für Energietechnik & Energiemanagement der Hochschule Niederrhein.
 
Peter Feller: Am 23.6.2022 hat Bundeswirtschaftsminister Habeck die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen. Es zeichnet sich die reale Gefahr ab, dass der Bezug von russischem Erdgas gänzlich zum Erliegen kommt. Welche Konsequenzen hätte dies für Deutschland?
 
Jörg Meyer: Ein kurzfristiger kompletter Ausfall russischer Gasflüsse nach Europa kann – wenn überhaupt – nur mit sehr viel Aufwand und zu sehr hohen Kosten durch andere Quellen ersetzt werden. In den kommenden Wintern droht eine erhebliche Versorgungslücke. Die Herausforderung ist hier nicht nur die Erschließung alternativer Quellen, sondern auch der Transport. Das europäische Gasnetz ist z. B. nicht für einen Transport von West nach Ost ausgelegt.
 
P. Feller: Würde dies auch die Unternehmen der Ernährungsindustrie betreffen?
 
J. Meyer: Sollte es zu einem Ausfall aller russischen Gasflüsse kommen und in diesem Zusammenhang die Notfallstufe verkündet werden, sind Rationierungen in der Industrie zu erwarten, da geschützte Kunden, wie z. B. Privathaushalte und soziale Dienstleister, wie Altenheime und Krankenhäuser, laut Notfallplan Vorrang haben. Die Bundesnetzagentur bzw. die Bundesländer würden in diesem Fall als Lastverteiler agieren und es käme somit zu Eingriffen in den Markt. 
In dieser Situation werden Abwägungen vorzunehmen sein, welche Wirtschaftszweige bzw. die Herstellung welcher Güter zu priorisieren ist. Die Bundesnetzagentur hat in diesem Kontext verschiedentlich geäußert, dass bspw. die Pharma- und die Ernährungsindustrie, aufgrund der essentiellen Bedeutung der von diesen Branchen hergestellten Produkte, gegebenenfalls mit einer Priorisierung rechnen können. Mit Blick auf die Ernährungsindustrie ist es jedoch durchaus denkbar, dass in der konkreten Situation eine Differenzierung nach Produktgruppen vorgenommen wird.
 
Die Bundesnetzagentur hat im Übrigen geäußert, dass sie ggf. auf einer möglichst soliden Datenbasis ihre Entscheidung treffen möchte, die die gesamte Lieferkette einbezieht. Denn die Herstellung von Nahrungsmitteln muss bspw. mit der Verfügbarkeit entsprechender Verpackungen und logistischen Dienstleistungen flankiert werden, um beim Endverbraucher anzukommen. Zu diesem Zweck wird von dieser Behörde zurzeit das Datenportal „Sicherheitsplattform Gas“ entwickelt, dessen Inbetriebnahme zum 1. Oktober 2022 vorgesehen ist.
 
P. Feller: Welche Möglichkeiten haben die Nahrungsmittel- und Getränkehersteller, um ihren Erdgasbedarf kurzfristig zu reduzieren?
 
J. Meyer: Jeder, nicht nur die Nahrungsmittel- und Getränkehersteller, kann jetzt schon – also kurzfristig – einen Beitrag leisten. Die Maßnahmen sind vielen Verantwortlichen auch bekannt und wurden teilweise auch schon umgesetzt. Es geht hier um Maßnahmen ohne oder mit nur geringen Investitionssummen. Bei den Empfehlungen muss zwischen der Reduzierung von Erdgas für die Raumwärme, von Erdgas für die Prozesswärme (in der Regel Dampferzeugung) und von Erdgas für die Produktion unterschieden werden. Für alle Bereiche gilt: Die Sensibilisierung der Mitarbeiter für das Thema Energieeinsparung ist ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg. Wenn alle Mitarbeiter aufmerksam sind und mitmachen, kann viel Energie kurzfristig eingespart werden. Zur Reduzierung des Erdgasbedarfs bei der Raumwärme empfehle ich Folgendes zu prüfen:
  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? D. h. gibt es eine Öl-Heizung (macht nur Sinn, wenn Heizölinfrastruktur schon vorhanden ist) oder Elektro-Heizung?
  • Kann die Temperatur in allen Räumen oder in einigen Räumen reduziert werden? Können einzelne Räume (Lager, nicht genutzte Büros) weniger beheizt werden? Ggf. muss die Bekleidung der Belegschaft (Jacke im Lager tragen) angepasst werden. Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Hier kann die Dichtigkeit der Fenster, Türen und Tore geprüft werden. Auch das Lüftungsverhalten (z. B. dauernd gekippte Fenster vermeiden) kann ggf. optimiert werden.
  • Ist die Steuerung der Heizung optimal? Hier könnte ein modernes Steuersystem nachgerüstet werden. 
  • Ist die Heizung gewartet? Sind die Heizkörper frei?
  • Sind alle Leitungen gedämmt? Hier kann auch in Eigenleistung einfache Dämmungen montiert werden.
  • Wird das Heizungswasser optimal verteilt? Hier kann ein hydraulischer Abgleich durchgeführt werden.
 
Im Bereich Prozesswärme (Dampferzeuger) empfehle ich folgende kurzfristigen Maßnahmen zur Reduzierung des Erdgasbedarfs:
  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? D. h. gibt es einen Kessel oder Brenner, der mit Öl betrieben werden kann. Bei kleinen Dampfbedarfe kann ggf. auch kurzfristig ein Elektro- oder Elektrodenkessel installiert werden.
  • Können Prozesstemperaturen (teilweise) reduziert werden? Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Sind die Anlagen ausreichend gedämmt? Sind die Kondensatabscheider intakt? Gibt es unnötige Kondensatverluste? 
  • Ist die Steuerung der Dampfkessel optimal? Hier könnte ein modernes Steuersystem mit z. B. einer O2-Regelung nachgerüstet werden. Werden die Kessel regelmäßig gewartet? Ist die Abschlämmung automatisiert?
  • Sind alle Leitungen gedämmt? Hier kann auch in Eigenleistung einfache Dämmungen montiert werden.
 
Die Reduzierung des Erdgasbedarfs in der Produktion ist schwieriger. Hier empfehle ich Folgendes zu prüfen: 
  • Kann der Energieträger ganz oder teilweise substituiert werden? D. h. können die Brenner an den Produktionsanlagen mit Heizöl betrieben werden.
  • Können Prozesstemperaturen (teilweise) reduziert werden? Sind die Produktionsanlagen optimal belegt? Sind die Luftwechselzahlen optimal eingestellt? Alle Sollwerte sollten kritisch hinterfragt werden.
  • Kann der Wärmebedarf reduziert werden? Sind die Anlagen ausreichend gedämmt? Können bevorzugt Produkte hergestellt werden, die weniger Wärme benötigen?
  • Ist die Steuerung der Brenner bzw. der Anlage optimal? Hier sollte mit dem Brennerhersteller oder Anlagenlieferanten gesprochen werden. 
     
P. Feller: Wie sollten die Unternehmen ihre Energieversorgung mittel- und langfristig ausrichten?
 
J. Meyer: Die mittel- und langfristige Ausrichtung der Energieversorgung hängt stark von den politischen Vorgaben ab. Unbestritten ist, dass die zukünftige Energieversorgung ohne fossile Energieträger auskommen muss. Ich sehe hier vier Möglichkeiten: Elektrifizierung, Einsatz von Biogas oder Biomasse, Einsatz von Wasserstoff oder Einsatz von synthetischen Kohlenwasserstoffen (z.B. Methan als Erdgasersatz)
Definitiv sind die mittel- und langfristigen Maßnahmen mit Investitionen verbunden. Die Empfehlungen für kurzfristigen Maßnahmen gelten auch mittel- und langfristig, d. h. 
  • Temperaturen und Wärmebedarfe sollten so gering wie möglich sein.
  • Leitungen, Anlagen und Räume sollten ausreichend gedämmt sein.
  • Die Versorgungseinheiten und Anlagen sollten gewartet sein und über moderne Steuerungseinheiten verfügen, die auch genutzt werden bzw. richtig eingestellt sind. 
  • Die Herstellung von energieintensive Produkten wird verringert. 
 
Bei den mittel- und langfristigen Maßnahmen muss prinzipiell auch wieder zwischen Empfehlungen für die Bereiche Raumwärme, Prozesswärme und Produktion unterschieden werden. Unabhängig von der Energieversorgungeinheit gilt aber für alle Bereich: Die Nutzung von Abwärme muss verbessert werden. Die Dämmung, also die Vermeidung der Entstehung von Abwärme, wurde oben schon angesprochen. Als nächsten ist dann zu prüfen, ob Wärmemengen im Prozess selber genutzt werden können, ob ein anderer Prozess des Unternehmens die Wärmemengen nutzen kann und schließlich, ob ein benachbartes Unternehmen die Wärmemengen nutzen kann. Die Nutzung der Abwärme ist mit Investitionen für Wärmeübertrager und Leitungen verbunden. Hier sind natürlich auch die Abwärmen von strombetriebenen Anlagen (z. B. Druckluft- oder Kälteanlagen) interessant.
 
In diesem Zusammenhang spielen auch Wärmespeicher eine große Rolle. Oft fallen Abwärmemengen und Wärmebedarfe nicht gleichzeitig an. Die Wärmemengen können zwischengespeichert werden.
 
Falls die Temperatur der bereitgestellten Wärme nicht ausreicht, kann eine Wärmepumpe installiert werden, die die gewünschte Temperatur erzeugt. Der Einsatz von Wärmepumpen bietet sich ggf. auch in Kombination mit der Nutzung von erneuerbaren Energien an. Die Solarthermie kann im Sommer in der deutschen Ernährungsindustrie aufgrund der teilweise niedrigen Temperaturen gut für eine Prozesswärmebereitstellung eingesetzt werden, z. B. in einem Pasteur. Als weitere Einbindungsoptionen sind eine Vorwärmung des Kesselspeisewassers oder eine direkte Erwärmung von CIP Wasser möglich. Für die Nutzung von Geothermie gilt dies auch.
 
Damit sind wir auch schon bei den mittel- und langfristigen Maßnahmen für die drei Bereiche. Im Bereich Raumwärme wird die Wärmepumpe (ggf. kombiniert mit einer Stromheizung) die bevorzugte Alternative sein. Als Wärmequelle kann Geothermie, Abwärme aus einem Prozess oder Umgebungswärme eingesetzt werden. Vorausgesetzt, es werden ausreichende Strom-mengen im Markt angeboten und die Stromzuleitungen sind ausreichend dimensioniert. Sollte die Versorgung mit Strom nicht möglich sein, kann – bei einer vorhandenen Erdgasleitung – Biogas oder Wasserstoff eingesetzt werden. Ist kein Erdgasanschluss vorhanden ist Biomasse (in der Regel Holz) die Alternative – langfristig ggf. auch synthetische Kraftstoffe.
 
Nutzung von Abwärme kann durch gezielte Zu- und Abfuhr von Luft mit integriertem Wärmeübertrager erfolgen. Bei Heizungen mit Brenneinheiten sollte die Brennwertnutzung installiert sein, d. h. die Nutzung der Abgaswärme zu Vorwärmung der Verbrennungsluft. Die Alternative zu einer Dampferzeugung (Prozesswärme) mit Erdgas oder Heizöl ist der Elektro- oder Elektrodenkessel. Hier gilt ebenfalls: Sind keine ausreichenden Strommengen im Markt vorhanden oder Zuleitungen nicht ausreichend dimensioniert, kann Biogas oder Wasserstoff bzw. Biomasse eingesetzt werden.
 
Nutzung von Abwärme kann bzw. muss in den Produktionsanlagen erfolgen (Vorwärmung von Frischluft und Rohstoffen) - bei Dampferzeuger mit Brenneinheiten sind Wärmeübertrager zur Vorwärmung der Verbrennungsluft und des Speisewassers ein Muss! Umstellungen in der Produktion sind am schwierigsten. Der Einsatz von Biogas oder Wasserstoff (oder synthetisches Erdgas) ist mit den geringsten baulichen und verfahrenstechnischen Änderungen verbunden. Für die Alternative Strombeheizung müssen in vielen Bereichen noch Anlagen entwickelt werden. Langfristig ist das aber durchaus möglich. Für die Nutzung von Abwärme gilt auch hier, dass in den Produktionsanlagen eingesetzte Frischluft und Rohstoffen vorgewärmt werden können. 
 
P. Feller: Haben Sie noch abschließende Worte?
 
J. Meyer: Die drohende Erdgasknappheit stellt die Unternehmen der Ernährungsindustrie in Deutschland vor sehr großen Herausforderungen. Die Elektrifizierung, der Einsatz von erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz stellen Instrumente dar, die sehr gut geeignet sind, den Erdgaseinsatz in den Unternehmen zu senken. 
 
Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass eine Umstellung auf klimaneutrale Energieträger mittel- und kurzfristig möglich ist. Und das auch schon kurzfristig der Erdgasbedarf reduziert werden kann. Aber durch Maßnahmen entstehen hohe Zusatzkosten für die Betriebe, die einen gravierenden Wettbewerbsnachteil darstellen können. Außerdem ist ein Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien sowie die Bereitstellung von ausreichenden Mengen an klimafreundlichen Brennstoffen wie Biomasse eine zwingende Voraussetzung. Um die finanzielle Belastung zu mildern, müssen Steuern und Umlagen auf Strom und klimafreundliche Energieträger soweit wie möglich reduziert werden. Nur so kann die Ernährungsindustrie bei einem klimaneutralen Betrieb wirtschaftlich produzieren und somit wettbewerbsfähig bleiben.
 

Was ist die Sicherheitsplattform Gas?
 
Die Sicherheitsplattform Gas ist ein Datenportal, in dem sich u. a. alle großen Gasverbraucher registrieren müssen. Ziel ist es, der Bundesnetzagentur in einer Gasmangellage aktuelle Daten online in einer Datenbank zur Verfügung zu stellen. Im Falle von Gasmangel in Deutschland oder EU-Mitgliedstaaten wäre es die Aufgabe der Bundesnetzagentur, den Gasverbrauch zu regeln. Die Daten der Unternehmen sind nicht öffentlich. Entwickelt wird die Sicherheitsplattform gemeinsam vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), der Bundesnetzagentur (BNetzA) und der Trading Hub Europe (THE). Die Inbetriebnahme der Plattform ist zum 1. Oktober 2022 geplant. Die Anpassung der gesetzlichen Vorschriften (u. a. Anpassung des Energiesicherheitsgesetzes) für die Umsetzung der Plattform erfolgt parallel zum Aufbau der Plattform.
www.bundesnetzagentur.de

 

 

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