Maschinelles Lernen für das bessere Bier
Dank der Prognose des Übergangs zur freien Gärung unterschiedlicher Biere spart die US Craft Beer Deschutes Brewery bis zu 72 h Produktionszeit pro Gärbehälter.
Nur wer agil ist, kann bestehen: Vor dem Hintergrund von Lieferkettenstörungen, Ressourcenknappheit und Energiekrise sind auch in der Getränkeindustrie diejenigen im Vorteil, die sich flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse einstellen können. „Agilität“ ist inmitten der turbulenten wirtschaftlichen Bedingungen der vergangenen Jahre eine zunehmend erfolgskritische Eigenschaft geworden. Wenn die einzige Konstante für die Betriebsbedingungen der Wandel ist, reicht es nicht mehr aus, (kosten-)effizient Produkte herzustellen.
Langfristig erfolgreich sind die Industrieunternehmen, die anhand ihres transparenten digitalen Datenmanagements schnell reagieren und sich als widerstandsfähig erweisen können.
Resilienz von innen heraus
Während Betriebe diverse strategische Wege wählen können, sind ihre Produktionsstätten in der Regel auf Effizienz ausgerichtet. Damit rentable Gewinnspannen erhalten bleiben, richten Führungskräfte ihre Produktion nach externen Faktoren aus und legen bspw. einen Puffer in ihren Lagerbeständen an, um verzögerten Lieferungen vorzugreifen. Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn indem sie vorrangig mögliche externe Schwankungen betrachten, übersehen sie die Risiken und Potenziale ihrer internen Strukturen und Produktionsabläufe. Dieser Mangel an interner Transparenz macht die eigenen Anlagen zu einer Blackbox, die einer resilienteren Herstellung und Lieferkette entgegensteht.
Dabei müssen Betriebe ihre eigenen Abläufe im besten Fall mit veränderten Geschäftsbedingungen synchronisieren. Der Schlüssel hierzu sind Rohdaten, die in den Anlagen der Getränkeindustrie ohnehin entstehen. Mithilfe einer Plant Information (PI)-Software als Teil einer übergreifenden IT-Architektur für die Fertigung, können Betriebe sie strukturiert erfassen und für alle Mitarbeitenden zugänglich machen. Die Software dient dem betrieblichen Datenmanagement und führt standortübergreifend Echtzeit-Daten von verbundenen Sensoren, Instrumenten und Geräten in einem digitalen Zwilling zusammen. Anhand der visualisierten Daten und daran ausgeführten Analysen können Ingenieur:innen, Bediener:innen und Führungskräfte gleichermaßen Störungen identifizieren und Anpassungen vornehmen. Übertragen sie die Daten in eine Cloud, können auch remote arbeitende Kolleg:innen, Geschäftspartner und sogar Kunden sicher auf die Informationen zugreifen.
Das eröffnet zahlreiche neue Erkenntnisse und Handlungswege, die ihnen zuvor nicht bewusst waren. Ihre Live-Daten bieten damit inmitten externer Störfaktoren eine ideale Basis für zielgerichtete geschäftliche Entscheidungen. In anderen Worten: Wer Licht in seine interne Blackbox bringt, kann sein Werk zu einem Stoßdämpfer für externe Volatilität machen.
Deschutes Brewery
Die amerikanische Craft Beer-Brauerei Deschutes Brewery zählt zu den Größten des Landes. Seit ihrer Gründung 1988 konnte die Brauerei ihr Geschäft massiv steigern: Zunächst verkaufte Gründer Gary Fish 310 Fässer Bier im Jahr, heute sind es jährlich etwa 225.000 Fässer. Vor dem Hintergrund dieses Wachstums implementierte Deschutes Brewery bereits frühzeitig das Aveva PI System, um seine Live-Daten aus den Produktionsstätten zu digitalisieren. Das schaffte Deschutes einen größeren Handlungsspielraum für unerwartete Situationen. So auch, als in neuen Gärbehältern plötzlich Temperaturspitzen auftraten und damit potenziell Qualität sowie Geschmack der Biere negativ beeinflussten.
Die Gärbehälter verfügten jeweils über ein Fassungsvermögen von mehr als 117.000 l, sodass für eine Füllung sieben Chargen Bier und ein zweistündiger Einfüllprozess notwendig waren. Insgesamt befanden sich an den Behältern drei Sensoren, die jeweils über dem unteren sowie am mittleren und oberen Konus die Temperatur erfassten. Während der Kühlphase im Brauprozess sinkt die Temperatur von knapp 15 °C auf etwa - 1 °C. Dadurch setzt sich die Hefe am Boden des Gärbehälters ab, sodass Braumeister:innen sie abziehen und für künftige Chargen wiederverwenden können. Als Deschutes jedoch die Hefe aus den Behältnissen entnahm, stieg die Temperatur in der obersten Zone stark an und erhöhte die Kühlzeit jedes Gärbottichs. Das verlängerte die gesamte Brauzeit und reduzierte die Kapazität der Brauerei.
Auf der Suche nach einer Lösung wandte sich Deschutes zunächst den verfügbaren Betriebsdaten zu. Ziel war es, die Kühlzeit wieder zu verkürzen und gleichzeitig die Qualität der Produkte aufrechtzuerhalten. In einem iterativen Prozess nahmen die Verantwortlichen gezielt mechanische Änderungen wie ein Luftventil am oberen Ende des Tanks oder Anpassungen an den Rohrleitungen vor. Die Daten zeigten, dass diese Maßnahmen zwar die Kühlzeit verringerten, aber die Temperatur in der obersten Zone weiterhin stark anstieg. Ein vierter Sensor am unteren Konus brachte die erforderlichen Erkenntnisse, um die Kühlung in diesem Bereich zu optimieren und die unerwünschten Temperaturspitzen zu beseitigen. „Wir konnten konsistente und replizierbare Kühlzeiten im Gärprozess erreichen und dabei in einigen Fällen etwa 60 % der zuvor benötigten Zeit einsparen. Darüber hinaus war es uns dank der datenbasierten Lösung möglich, eine ansonsten erforderliche Investition in Höhe von acht Millionen US-Dollar zu verschieben“, erklärt Brian Faivre, während des Projekts verantwortlicher Braumeister bei Deschutes
Maschinelles Lernen
Als Craft Beer-Brauerei entwickelt Deschutes häufig neue Biersorten, die jedoch stets einen individuellen Gärprozess erfordern. Dieser kann bis zu neun verschiedene Phasen umfassen, die je nach Sorte unterschiedlich lange andauern und für gewöhnlich über manuelle Messungen erfasst werden. Um die Übergänge von einer Phase in die nächste digital zu erkennen, kombinierte Deschutes sein bereits vorhandenes PI-System mit maschinellem Lernen. Innerhalb weniger Wochen setzte das Unternehmen Frameworks für alle 50 Gärbehältnisse auf, welche die erfassten Daten kontextualisierten. Anschließend integrierte Deschutes die vorhandenen kontextualisierten Daten aus dem PI-System in die cloudbasierte Anwendung Microsoft Azure. Dort fokussierte das Unternehmen die Vorhersage für den Übergang von der Fermentation zur freien Gärung, die ohne künstlich erzeugte Eingriffe abläuft. Dafür erfassten die Braumeister zunächst manuell den scheinbaren Grad der Gärung, also den Prozentsatz des Bieres, der bereits gegoren war.
Mit dieser Information aktualisierten sie die Vorhersagen für den nächsten Phasenübergang, damit diese künftig automatisiert ablaufen konnten. Im PI-System konnten die Anwender:innen in der Produktion dann die visualisierten Vorhersagen einsehen. „Wir haben uns maschinelles Lernen zunutze gemacht, um bereits innerhalb von 24 Stunden nach Beginn der Gärung vorherzusagen, wann die nächste Gärphase beginnt“, erklärt Tim Alexander, stellvertretender Braumeister bei Deschutes. Indem Deschutes den Übergang zur freien Gären für verschiedene Biere vorhersagen kann, spart die Brauerei bis zu 72 Stunden Produktionszeit pro Gärbehälter. „Dabei reduzieren wir nicht nur an dieser konkreten Stelle den Zeitaufwand, sondern stellen auch sicher, dass die weiteren Phasen der Gärung reibungsloser ablaufen“, fügt Tim Alexander hinzu. Im nächsten Schritt plant Deschutes, die Vorhersagen für jedes Bier und jeden Gärphasenübergang zu automatisieren. „Wir wollen den Punkt erreichen, an dem das System einfach sagt: Es ist Zeit, auf zum nächsten Schritt.“
Zukunftssicher durch holistisches Datenmanagement
Entlang solcher datenfokussierter Lösungsansätze können Unternehmen wie Deschutes Brewery Ingenieurwesen, IT und Fertigungsanlagen verbinden. Hersteller überblicken mit einem kohärenten Datenmanagement ihren gesamten Prozess und können gezielt an Stellschrauben drehen, um diesen zu optimieren. Gleichzeitig erlauben langfristig gesammelte Daten(-muster), beim Auftreten von internen sowie externen Herausforderungen schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das Potenzial digitaler Fertigungsanwendungen ist weitreichend und kann Getränkehersteller für turbulente Zeiten besser aufstellen. Wer also jetzt die globalen Multi-Krisen als Chance begreift, geeignete digitale Werkzeuge etabliert und neben Effizienz auch Agilität strategisch priorisiert, wird im künftigen Wettbewerb bestmöglich gerüstet und widerstandsfähiger sein.
Autor: Awraam Zapounidis, Vice President Central and Eastern Europe von Aveva