13.04.2016 • PraxisberichteCITplusVDI WissensforumBASF

Drei Stellschrauben für mehr Anlagensicherheit

Die 3. VDI-Konferenz "Anlagensicherheit" zeigt auf, wie die Prozessindustrie wachsenden Sicherheitsansprüchen mit schrumpfenden Ressourcen gerecht werden kann.

Wenn das Haus brennt, ist es zu spät, sich Gedanken über die Möglichkeiten des Brandschutzes, über die Funktion des Feuerlöschers oder die Einsatzfähigkeit der Feuerwehr zu machen. Übertragen auf die Prozessindus­trie heißt das zum einen: Sicherheitsfachleute dort sollten zusammen mit den Instandhaltern eine verlässliche Basis für möglichst hohe Sicherheit ihrer Anlagen schaffen – mit Hilfe der Risikobasierten Instandhaltung, kurz RBI. Das meint Jürgen Hofmann, Principal Consultant bei DNV GL Oil & Gas Germany. Da es jedoch 100 % Sicherheit nie geben kann, setzt Tobias Zilberman, Head of HSE (Health, Safety, Environment) bei Gazprom Germania auf die systematische Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr. Thomas Grau von der Werkfeuerwehr der BASF Ludwigshafen und sein Kollege Werner Weiss, Fachkraft für Arbeitssicherheit, haben bereits probate Methoden entwickelt, die die Zahl der Ereignisse und Betriebsstörungen reduzieren.

Risikobasierte Instandhaltung
Risikobasierte Instandhaltung unterstützt vor allem diejenigen, die ein höheres Sicherheitslevel anstreben, ohne dass das Budget für Instandhaltungs- und Sicherheitsmaßnahmen steigt. Der Ansatz ist ganz einfach: Bei der Entscheidung, wo der Fokus bei der Instandhaltung liegen soll, orientiere man sich an den Risiken. DNV GL, im Jahr 2013 hervorgegangen aus dem Zusammenschluss von DNV (Det Norske Veritas) und GL (Germanischer Lloyd), propagiert dazu die Methode RBI, die Dr. Jürgen Hofmann auf der 3. VDI-Konferenz „Anlagensicherheit“ vorstellen wird. Hofmann stellt mit Blick auf die chemische und petrochemische Industrie klar: „Dort, wo Menschen zu Schaden kommen können, kann man in der Instandhaltung natürlich nicht sparen.“ RBI hilft jedoch auch, finanzielle Risiken im Blick zu behalten. Maschinen- und Anlagenausfälle führen unter Umständen zu gewaltigen finanziellen Einbußen für den Betreiber. „Alle Risiken, die diesen Aspekt betreffen, muss man mit Inspektionen und Wartungsmaßnahmen vorzugsweise bedienen“, bekräftigt der DNV-GL-Berater.

DNV-GL-Konzept minimiert Risiken und erhöht Zuverlässigkeit
Wer Risiken minimiert, maximiert immer die Zuverlässigkeit der Anlage. Insofern sieht Hofmann die Risikobasierte Instandhaltung als Dach über alle Instandhaltungsmethoden – von reaktiver Instandsetzung bis hin zu präventiver Instandhaltung. Er sagt: „Die andere Seite des Risikos ist ja die Chance.“ Insofern habe RBI viel mit Industrie 4.0 zu tun, wo eben die Chancen, die aus Datenvielfalt und -verknüpfung resultieren, betont würden.
Denn auch um Entscheidungen im Sinne von RBI zu treffen, brauche es Daten. Hofmann schildert: „Leider passiert es uns in Projekten immer wieder, dass man uns in verstaubte Keller führt und uns dort 200, 300 Aktenordner zeigt. Und sagt: Das sind unsere Instandhaltungsdaten. Damit kann man gar nichts anfangen – außer abstauben.“ Für RBI braucht es die Möglichkeiten der modernen Informationstechnik, um die nötigen Daten vorzuhalten, aufzubereiten und auszuwerten.
RBI als Teil des Risikomanagements setzt bereits bei der Entscheidung an, wo eine neue Anlage entstehen soll. Den Anlagenbetreibern und Instandhaltern bietet sie Entscheidungshilfen: Wann kann man Anlagenteile auf Ausfall fahren? Wann sind vorbeugende Instandhaltungsmaßnahmen und damit Investitionen in z. B. den Austausch von Maschinenteilen noch vor deren Ausfall sinnvoll? Und wann und wo sollte man den IT-technischen Aufwand für die prädiktive Instandhaltung treiben, der durch Industrie 4.0 unterstützt wird? Die Risikobewertung als Teil der RBI macht offensichtlich, „welche der vielen Methoden aus dem Zoo der Instandhaltungsmethoden an einer bestimmten Stelle anzuraten sind“, sagt Hofmann.

Ein Nutzen : Reduktion von Versicherungsbeiträgen
Der Nutzen, den Hofmann in seinem Vortrag auf der VDI-Konferenz detailliert vorstellen wird, könnte neben dem Sicherheits- und Verfügbarkeitsgewinn auch in der Reduktion von Versicherungsbeiträgen liegen. Das wäre mit der jeweiligen Versicherung zu diskutieren, meint der DNV-GL-Consultant: „Das ist von Fall zu Fall schon passiert – wenn einer seine Risiken kannte und darstellen konnte.“ Aber vordergründig gehe es darum, die Anlage möglichst, ohne irgendwelche Störungen oder Schadens­ereignisse zu fahren. Und damit den Profit zu optimieren, resümiert Hofmann. RBI stehe an der Schnittstelle der klassischen Betriebswirtschaftslehre zur Technik. Damit unterstütze sie die Instandhaltung, die immer als unnötiger Klotz am Bein verstanden werde. Es seien ja unglaubliche Mengen an Geld, die in Deutschland jedes Jahr für Instandhaltung ausgegeben werden. Auf rund 200 Mrd. € beziffert Hofmann den Aufwand. „Davon nur 0,1 % einzusparen, wäre schon hervorragend.“
Doch selbst, wenn die Instandhaltung in Sinne von RBI – oder jeder anderen denkbaren Methode – optimal arbeitet: Sicherheit zu 100 % kann es nicht geben, schon gar nicht bei begrenzten Ressourcen. Daher wird sich Tobias Zilberman von Gazprom Germania in seinem Vortrag im April mit der Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr im Spannungsfeld steigender Erwartungen und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Der Leiter HSE erläutert: „Unter Notfallvorsorge verstehen wir alle Maßnahmen, die dazu dienen, sich präventiv auf alle Notfallereignisse vorzubereiten. Die operative Gefahrenabwehr umfasst Alarmierung, Brandbekämpfung, erste Hilfe und Leckagebekämpfung etc.“ Für all dies müsse man geeignete Strukturen im Unternehmen installieren – und vorbereitete Prozesse, die im Prinzip nur schlummern, um für den Fall der Fälle gangbare Wege vorbereitet zu haben. Zilberman verspricht: „So kommt man bei einem Ereignis schnell aus dem Reagieren ins Agieren.“ So werde man einer Gefahr wieder Herr, könne Schäden eindämmen und bekämpfen und die Gefahr schließlich wieder beseitigen.
Selbst Aspekte der IT-Security subsummiert die Gazprom-HSE-Abteilung in ihrem Notfall- und Krisenmanagement. Notfallmanagement-Bausteine für Brand, Explosion und Stofffreisetzung würden ergänzt durch ein Notfallmanagement in der IT-Welt, das sich eher mit virtuellen Themen beschäftigen, denn „auch ein IT-Ausfall kann eine Krise im Unternehmen bewirken.“

Risikobewusstsein in der Gesellschaft gewachsen
Steigen tatsächlich die Erwartungen an die Gefahrenabwehr an? Ja, meint Zilberman, schon, weil das Risikobewusstsein im Privaten immer weiter zunehme: „Meine Eltern haben mich selbstverständlich bereits in der 1. Klasse allein auf den Schulweg geschickt, die meisten Eltern heute würden das nicht mehr tun. Nicht, weil die Welt so viel gefährlicher geworden ist. Man hat nur ein anderes Risikoverständnis.“ Als Öl- und Gasunternehmen bekommt Gazprom das zu spüren. Dazu komme die wachsende Präsenz und schnellere Reaktionszeit der Medien. Zilberman meint sogar: „Die Erwartungshaltung steigt exponentiell. Gleichzeitig verändert sich die Marktsituation; wir müssen immer effizienter werden. Und zum dritten zieht sich die öffentliche Hand aus der Gefahrenabwehr immer stärker zurück.“
Tatsächlich sehen sich viele Berufsfeuerwehren aufgrund von Budgetkürzungen gezwungen, Schutzziele zu ändern. Sie stehen nicht mehr in derselben Frist zur Verfügung wie noch vor wenigen Jahren. Und bei den freiwilligen Feuerwehren macht sich der demographische Wandel bemerkbar. Nicht allein, dass dort weniger Menschen mitwirken. Ihre Tagesverfügbarkeit verringert sich durch die veränderte Arbeitswelt. Arbeitsplatz und Wohnort liegen oft weit auseinander, und Arbeitgeber sind immer seltener bereit, ihren Mitarbeitern die nötige Flexibilität zu ermöglichen. Gazprom mit vielen kleinen dezentralen Anlagen ist wie viele andere Öl- und Gas-Unternehmen, aber auch Betreiber kleiner Chemieanlagen und –standorte ohne eigene Werkfeuerwehr davon stark betroffen.

Verbessertes Notfall- und Krisenmanagement bei Gazprom
Wie kann man reagieren? Zilberman baut auf ein fünfstufiges Modell zur Gefahrenabwehr, das er auf der VDI-Konferenz genauer vorstellen wird. „Wir arbeiten szenarienspezifisch. Und gleichen ab: Welche Mittel der öffentlichen Gefahrenabwehr stehen uns bei diesem Szenario zur Verfügung? Was müssen wir tun, um Lücken zu schließen?“ Dies können technische oder organisatorische Maßnahmen sein. Gazprom, betont Zilberman, stellt sich im Notfall- und Krisenmanagement besser auf – und beachtet auch das Thema Krisenkommunikation wesentlich mehr als noch vor einigen Jahren. So gibt es intensive Medientrainings für Betriebsleiter und die Geschäftsführung. Der HSE-Leiter fasst zusammen: „Schlussendlich handeln wir immer unter dem Duktus, mehr präventiv zu handeln für den Fall der Fälle, aber trotzdem in einer schlanken und effizienten Struktur zu arbeiten.“ Mit Hofmann von DNV GL ist er sich einig: „Sicherheit heißt automatisch auch zuverlässiger Anlagenbetrieb mit weniger Störungen und höhere Effizienz.“ Doch der Nutzen sei schwer quantifizierbar. Monetär vergleichbar seien nur die präventiven Maßnahmen, etwa bei der Löschwasserversorgung, für die eine Zisterne, ein Löschwasserteich, ein Hochbehälter oder ein mobiles Wasserfördersystem vorgehalten werden könnte. „Unsere Aufgabe ist es dann, die Variante zu finden, die für das Unternehmen die größte Nachhaltigkeit hat.“
Auch wenn es aufwändig sei, die geänderte Verfügbarkeit der öffentlichen Feuerwehren auszugleichen, „schon von Rechts wegen müssen wir das ins Kalkül ziehen“, verdeutlicht Zilberman, „denn die Störfallverordnung sagt ja, dass Veränderungen in den Notfalldiensten in der Alarm- und Gefahrenabwehrplanung zu berücksichtigen sind. Jeder der eine Störfallanlage betreibt, muss das tun.“
Große Unternehmen wie die BASF können dabei auf eine gewachsene Struktur bauen. Die Werkfeuerwehr am Standort Ludwigshafen etwa besteht bereits seit über 100 Jahren. Doch auch dort bewegt sich Einiges, um Sicherheitskonzepte immer weiter zu vervollständigen. Thomas Grau von der Werkfeuerwehr und Werner Weiß, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der BASF, erläutern in ihrem Vortrag ein praxiserprobtes Konzept für die Planung der Sicherheitsarbeit bei Abstellungen. Grau verdeutlicht: „Letztlich besteht der BASF-Standort Ludwigshafen aus vielen einzelnen Betrieben, die für ihre Sicherheit eigenverantwortlich sind.“

Abstellung bedeutet zusätzliche Gefahrenquellen
Bei einer Abstellung bzw. Revision einer Anlage sind sehr viele externe Mitarbeiter auf dem Gelände und es ergeben sich durch die Arbeiten zusätzliche Gefahrenquellen im Vergleich zum Normalbetrieb. „Beim Öffnen von Rohrleitungen und Apparaten geht es bspw. neben den mechanischen Gefährdungen auch um die Gefährdungen durch Chemikalien“, sagt Weiß.
Bei Befahrvorgängen in engen Räumen und Behältern sowie bei feuergefährlichen Arbeiten können zusätzliche Gefährdungen auftreten. Die Sicherungsposten zum Beaufsichtigen dieser Arbeiten werden von der Feuerwehr ausgebildet. Zusätzlich stellt die Feuerwehr sogenannte Safety Advisors, erfahrene Kollegen, die Rundgänge machen, auf die Arbeitssicherheit achten und den Betrieb beraten.
Bei Abstellungen ist eine separate Infrastrukturplanung erforderlich. Dazu müssen etwa Sozialcontainer, Reinigungs- bzw. Lagerplätze sowie Aufstellplätze für Krane schon in der Planungsphase festgelegt werden. Selbstverständlich sind Flucht und Rettungswege freizuhalten und ein Alarmierungskonzept zu erstellen.

Festgeschriebene Rollen- und Aufgabenverteilung
Weiß, Grau und ihre Abteilungen arbeiten systematisch daran, Gefährdungssituationen, unsichere Handlungen und Ereignisse bei Abstellungen zu minimieren. Als Hilfsmittel dient der Leitfaden für Arbeitssicherheit bei Abstellungen. Das inzwischen praxiserprobte Konzept setzt bei der Organisation einer Abstellung an. Weiß führt aus: „Im Rahmen eines Workshops erarbeiten wir ein Organigramm mit klarer Aufgabenverteilung und Rollenbeschreibungen. Gerade bei Abstellungen kommt es auf ein klares Kommunikationskonzept an, da bei der großen Anzahl verschiedener Arbeiten ein erhöhter Abstimmungsbedarf besteht.“
Für den Workshop werden neben den Verantwortlichen des Betriebs auch die Verantwortlichen der Gewerke zusammengezogen. Dazu muss bereits ein Zeitplan existieren, der alle notwendigen Arbeitsschritte beinhaltet. Werkfeuerwehr und die Abteilung Arbeitssicherheit erarbeiten mit den Teilnehmern die notwendigen EHS (Environmental, Health and Safety) -Funktionen und deren Aufgaben und Qualifikation.
Der Einsatz externer EHS-Berater kann eine wirkungsvolle Unterstützung darstellen. Allerdings setzt dies voraus, dass diese vollständig integriert sind und klare Rollen und Verantwortlichkeiten bekommen. Die oftmals mangelnde betriebliche Erfahrung kann nur durch eine gründliche Einarbeitung kompensiert werden.

Sicherheitskonzepte für kleine und große Betriebe
Bei der BASF in Ludwigshafen ist das neue Sicherheitskonzept für die Planung von Abstellungen bei vielen Großbetrieben umgesetzt. Im nächsten Schritt sollen auch kleinere Betriebe, sowie Teilabstellungen beraten werden.
Vier bis sechs Stunden dauert der Initialworkshop mit den Verantwortlichen des Betriebes. Danach benötigt ein Betrieb ca. fünf Tage zur Erstellung einer Dokumentation der verschiedenen Sicherheitsthemen. Dieses Sicherheitshandbuch dient dann als Planungsgrundlage für alle zukünftigen Projekte.
Angesichts des hohen Stellenwerts des Themas Sicherheit sei das kein allzu großer Aufwand, meint Weiß. „Die Umsetzung ist bereits in einigen Betrieben erfolgt.“ Natürlich würde auch er gerne den Nutzen der neuen Methode quantifizieren. In absoluten Zahlen geht das nicht, doch Weiß sagt: „Wir haben während unserer Abstellungen keine großen Ereignisse mehr verzeichnet.“ Und da auch der BASF-Standort Ludwigshafen letztlich aus vielen kleinen Betrieben besteht, ist er sich sicher: Jeder Teilnehmer der VDI-Tagung kann für die Sicherheit im eigenen Betrieb etwas mitnehmen.

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