IGR Erfahrungsaustausch: Experten der Prozessindustrie diskutieren Dekarbonisierung, PFAS und IT/OT-Konvergenz
Am 4. und 5. September organisierte die Interessengemeinschaft Regelwerke Technik (IGR) den Erfahrungsaustausch für Experten der Mess- und Regeltechnik in der Prozessindustrie. Zum ersten Mal war die Veranstaltung für die Öffentlichkeit, also auch Nicht-Mitglieder, geöffnet.
Dr. Etwina Gandert, Chefredaktion CITplus
Der Expertentreff ist in der chemisch-pharmazeutischen Industrie fest etabliert. Wichtige Themen waren neue regulatorische Anforderungen, Test- und Prüfmethoden, der internationale Wettbewerbsdruck und die Dekarbonisierung.
In diesem Jahr trafen sich die Fachleute für Mess- und Regeltechnik aus der Chemieindustrie wieder beim IGR Erfahrungsaustausch Technik in Walldorf bei Frankfurt am Main. Erstmals war die Veranstaltung auch für Nicht-Mitglieder geöffnet und konnte sogleich ein Plus von 10 % bei der Teilnehmerzahl verbuchen. Das trug zum Austausch unter den Experten bei und freute den Vorsitzenden der IGR, Werner Sievers.
Für die 120 Teilnehmenden hatte der Verein ein hochkarätiges Programm zusammengestellt, das ein breites Themenspektrum abdeckte. Neben übergreifenden Themen wie Dekarbonisierung und Wasserstoff in der Prozessindustrie sowie KI-Anwendungen, profitierten die Teilnehmenden auch von ganz handfesten Informationen z.B. über Test- und Prüfmethoden von Behältern und Leitungen, Neuigkeiten zur TA-Luft und zu PFAS sowie zur praktischen Umsetzung von IT/OT-Konvergenz.
Zur Begrüßung eröffnete Dr. Sievers die Veranstaltung und sagte: „Die Prozessindustrie in Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Nur durch intensive Zusammenarbeit und den Austausch von Know-how können wir wettbewerbsfähig bleiben und den globalen Technologiewandel meistern.“ Wer sich in der IGR engagiert, profitiere von der Expertise eines großen Expertenkreises. Nicht nur ließen sich Kosten bei der Umsetzung von regulatorischen Anforderungen durch geteiltes Engagement sparen, sondern auch innovativere Prozesse und Produkte auf den Weg bringen. Deshalb wolle die IGR praxisorientierte Lösungen für die Branche fördern.
Inhalt:
- Themen: Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft und Wasserstoff
- Synthetische Kraftstoffe als Basis für Produkte
- PFAS-Verbot noch in der Diskussion
- Impressionen vom IGR Erfahrungsaustausch 2024
- „Daten-Rucksack“ für IT-/OT-Kommunikation
- Günstigere Sensorik und 24/7-Monitoring
- Sustainable Development Goals sind kein Selbstzweck
- Normung als Wettbewerbsvorteil
- Einladung zum nächsten Erfahrungsaustausch in zwei Jahren
- Inbetriebnahme neuer Testanlage für automatisierte Tests von Sicherheitsfunktionen
- Dr. Etwina Gandert
Themen: Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft und Wasserstoff
Im Vortrag „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft und Wasserstoff – eine brisante Mischung“ betonte Lauri Stemmler, Siemens, dass es bei der Technologie zwar keine völlig neuen Herausforderungen gebe, aber eine anspruchsvollere Nachweisführung. Offene Punkte hinsichtlich TA Luft bestehen mitunter bei Flanschverbindungen und Schauglas-Armaturen. Die IGR hat bereits Musterrohrklassen mit Nennweiten-Druck-Beziehungen sowie Anzugsmomente für Schrauben erarbeitet, um grünen Wasserstoff schneller für die Anlagen zu nutzen.
Im Anschluss referierten Valerie Huber-Lohr, Siemens, und Stephan Lederer, TÜV Hessen, über Wasserstoff und sein Potenzial in der Prozessindustrie. Das „kleine Molekül mit großer Zukunft“ stand auch bei Folgevorträgen im Fokus. Die Prozessindustrie müsse den Technologiewandel aktiver gestalten, um grünes H2 vermehrt für Raffinerien, die Düngemittelproduktion oder als nachhaltigeren Energieträger zu verwenden. Was beim vermehrten Einsatz von Wasserstoff bedacht werden muss, ist sein Einfluss auf Werkstoffe, wie die Beeinträchtigung der mechanischen Eigenschaften vieler Stahlkomponenten. Die Versprödung oder Spannungsrisskorrosion seien aber beherrschbar – auch dank neuer Prüfmethoden.
Synthetische Kraftstoffe als Basis für Produkte
Kostenoptimierte Strategien zur Dekarbonisierung waren ein weiterer Höhepunkt der Tagung. Betont wurde, dass Kapital stärker in Richtung Nachhaltigkeit fließe. Betreiber bräuchten jedoch einen Plan, Transparenz und Flexibilität, um Investoren zu überzeugen und so von günstigeren Krediten zu profitieren. Zur Dekarbonisierung dienen auch E-Fuels, die in der öffentlichen Debatte mitunter negativ gesehen würden. Diese seien künftig jedoch nicht nur im Klimaschutzkontext, sondern auch als Ausgangs- oder Rohstoffe für Kunststoffe, Lacke und Konsumgüter unverzichtbar. Diese Produkte basieren aktuell auf Erdöl. Werner Sievers forderte deshalb, dass die Gesellschaft offener für technologische Innovationen werden müsse. Die noch hohen Herstellungskosten von E-Fuels sollten als Investition in eine nachhaltige Zukunft gesehen werden.
PFAS-Verbot noch in der Diskussion
Am zweiten Tag wurden die Vorträge auf Themen wie EMR-Technik, Prozesssicherheit, Werkstofftechnik, sowie Mechanik und Verfahrenstechnik verteilt. Dabei stand auch die Problematik des Verbots von PFAS (Per- und Polyfluoralkylsubstanzen), auch bekannt als „Ewigkeitschemikalien“, im Fokus. Aufgrund ihrer Stabilität und Langlebigkeit können diese Chemikalien sowohl in der Umwelt als auch im menschlichen Körper akkumulieren. Für mehr als 14.000 Verbindungen, die bspw. in Kältemitteln, Löschschaum oder Fluorkunststoffen vorkommen, sind gesetzliche Beschränkungen geplant. Die IGR setzt sich deshalb für herstellerneutrale Spezifikationen ein, prüft Alternativen zu PFAS und weist darauf hin, dass bisher keine adäquaten Ersatzstoffe zur Verfügung stehen. Dies könnte im „Post-PFAS-Zeitalter“ auch Herausforderungen für Wartungsintervalle und -prozesse nach sich ziehen. Eine aktive Mitarbeit für eine Stellungnahme an die Behörden sei willkommen, betonte Susanne Winkler, Siemens.
Impressionen vom IGR Erfahrungsaustausch 2024
„Daten-Rucksack“ für IT-/OT-Kommunikation
Ein Vortrag aus dem IGR-Kompetenzcenter EMR-Technik thematisierte, wie sich die Aussagekraft von Daten bei ihrer Reise von der Betriebsebene zur Unternehmensleitung gewährleisten lässt. Damit die Branche von neuen technischen Möglichkeiten der IT (Analysewerkzeuge, KI) profitiere, müssen neben Zahlenwerten auch möglichst viele der damit verbundenen Eigenschaften über die Systemgrenzen transportiert werden. Wichtig sei es, diese dafür mit möglichst über Systemgrenzen hinweg allgemein verständlichen zusätzlichen Kontextinformationen zu versehen, ihnen sozusagen einen „Rucksack“ mitzugeben, um ihre Bedeutung für den Unternehmenserfolg schneller und mit geringem Aufwand zu bewegen.
Günstigere Sensorik und 24/7-Monitoring
Auch um Wettbewerbsfähigkeit und Anlagenverfügbarkeit ging es am zweiten Tag der Veranstaltung. Die Zustandsüberwachung von Anlagen gewinnt deshalb an Bedeutung, weil Anlagen immer häufiger an ihren Belastungsgrenzen gefahren werden. Um Korrosion, Erosion, Materialermüdung und Umweltrisiken frühzeitig zu erkennen, sind neue Technologien und günstigere Sensorik wie digitale thermische und akustische Kameras für ein 24/7-Monitoring geeignet. Schallemissionsprüfung und das Corrosion Mapping helfen, Wanddicken von Rohren und Armaturen im Blick zu behalten, Kosten zu sparen und die Verfügbarkeit der Systeme zu erhöhen. Dazu stellte der TÜV Hessen seine Techniken vor. Die Teilnehmenden hatten die Möglichkeit, die Messtechnik zur Korrosionsüberwachung live vor Ort zu testen.
Sustainable Development Goals sind kein Selbstzweck
Dass die Anlagen in der EU oft umweltschonender arbeiten als im internationalen Vergleich ist auch ein Resultat von Energieeffizienzmaßnahmen, was im öffentlichen Diskurs zu wenig berücksichtigt wird. Es gelte, das Bewusstsein der Öffentlichkeit und Politik dafür zu schärfen, so eine wichtige Forderung der Referenten. Zudem sind eine transparente Verifizierung und Darstellung, bspw. des CO2-Footprints pro Tonne Produkt, ein Schlüssel zu grünen Sonderkreditprogrammen. Die Berichtspflichten und Sustainable Development Goals (SDGs) zu erfüllen, sei mittlerweile kein Selbstzweck mehr, sondern essenziell für das Fortbestehen von Unternehmen.
Normung als Wettbewerbsvorteil
Ein Gastvortrag des DIN Berlin von Amelie Leipprand zeigte, wie Unternehmen Normung und Standardisierung nutzen, um ihre Zukunft zu sichern. Normen sind freiwillige Regeln, die von Interessengruppen erarbeitet werden und eine wichtige Rolle bei der Vergleichbarkeit, dem Wissenstransfer und der Genehmigungsgrundlage spielen. Die IGR vermittelt zwischen der Branche und dem Gesetzgeber. Unternehmen, die in Normungsgremien mitwirken, gestalten nicht nur den technologischen Wandel aktiv mit, sondern erlangen oft auch einen Wettbewerbsvorteil durch den damit verbundenen Informationsvorsprung.
Einladung zum nächsten Erfahrungsaustausch in zwei Jahren
Sievers bedankte sich zum Ende der Tagung bei den Teilnehmenden und dem Organisationsteam und unterstrich die wichtige Rolle der IGR als Impulsgeber für Innovation und Fortschritt. Besonders hervorzuheben sei das Engagement der Expertinnen und Experten, die mit ihrer Leidenschaft dazu beitragen, die Branche nachhaltiger und wettbewerbsfähig zu gestalten. Der nächste Erfahrungsaustausch ist in zwei Jahren geplant und wird erneut öffentlich stattfinden. Bereits dieses Mal kamen über 10 % der Teilnehmenden aus Unternehmen, die nicht Mitglied sind – ein Zeichen dafür, dass die IGR über Vereinsgrenzen hinaus Akteure aus verschiedenen Bereichen und über den Industriepark Höchst hinweg zusammenführt.
Inbetriebnahme neuer Testanlage für automatisierte Tests von Sicherheitsfunktionen
Experten von der IGR, von Hima, Endress+Hauser und Samson haben im Juni 2024 in der IDEA 4.0-Anlage einen neuen Testaufbau für so genannte Automated Prooftests in Betrieb genommen. Der Spezialist für Automatisierung in der funktionalen Sicherheit Hima erprobt dort künftig Sicherheitsfunktionen in der Prozessleittechnik (PLT).
Die Demonstrations- und Experimentieranlage IDEA 4.0 hat Bilfinger im Auftrag der IGR im Industriepark Höchst errichtet. Damit steht allen IGR-Mitgliedern ein realistisches Umfeld zur Verfügung, um neue Technologien, in einem praxisnahen Umfeld zu testen. Dies gilt auch für den Automated Prooftest von Hima. Automatisiert überprüft werden damit die sicherheitsrelevanten Funktionen von prozessleittechnischen Anlagen sowie die Funktion und Integrität der Sicherheitsinstrumentierten Systeme. Nach festgelegten Prozeduren werden Testsequenzen ausgeführt, Betriebsbedingungen simuliert und Systemreaktionen überwacht. Die Ergebnisse werden analysiert und dokumentiert, um Sicherheitsanforderungen zu bestätigen. Automatisierte Prooftests minimieren Fehler, erhöhen die Effizienz und verbessern die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Anlagen.
In den vergangenen Monaten hatte Hima die notwendigen Komponenten integriert und ein Testszenario aufgebaut. Bei dem gemeinsamen Termin im Industriepark Höchst haben die Unternehmen unter Leitung der IGR bereits erste wichtige Erkenntnisse gesammelt, um in den kommenden Wochen einen konkreten Testplan zu erstellen.
Über weitere Vorschläge für Testpunkte und -abläufe freuen sich Andreas Schüller, Marco Knödler, Markus Becker oder Sven Seintsch. Die IGR dankt insbesondere Herrn Jens Appel für die Initiative, Organisation und Koordination dieses wegweisenden gemeinsamen Projektes und der Inbetriebnahme des Testaufbaus.
Dr. Etwina Gandert
Chefredakteurin CITplus