Lebensmittel-Industrie 4.0: Ganzheitliche Analyse und Roadmap am Beispiel eines Schokoladenherstellers
In der industriellen Lebensmittelproduktion ergeben sich durch den Innovations- und Transformationsprozess hin zur Industrie 4.0 weitreichende Potentiale zur Optimierung der Wertschöpfung. In der Praxis fehlen heute allerdings oftmals noch die Übersicht über die eigenen Initiativen und das Verständnis für die bestehenden Abhängigkeiten. Der „Acatech Industrie 4.0 Maturity Index“ bietet die strukturelle Grundlage, um den individuellen Status quo zu bestimmen und den Transformationsprozess ganzheitlich zu gestalten. Am Beispiel mehrerer internationaler Schokoladenhersteller zeigt sich, wie ausgehend von einer Analyse der Kernprozesse und einem abgestimmten Zielbild die relevantesten Maßnahmen identifiziert und in einem übergreifenden Programm koordiniert werden.
Dieses adressiert z. B. die Erhöhung der Gesamtanlageneffektivität durch Reduzierung kurzer Anlagenstopps, die präzisere Erreichung der Füllmengenanforderungen und eine aufwandsarme Rückverfolgbarkeit von Produkten und Materialien.
Potentiale auf dem Transformationspfad zur Lebensmittel-Industrie 4.0
Im Kontext wachsender Anforderungen an Lebensmittel seitens Verbraucher und Behörden kann ein großes Produktspektrum zu wettbewerbsfähigen Preisen nur anbieten, wer die Effizienz steigert und gleichzeitig die steigende Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität (VUKA) beherrscht. Neben den Unternehmensprozessen gilt dies insbesondere auch für das Informationsmanagement entlang des gesamten Wertschöpfungsprozesses. Was zuvor oft als strategischer Wettbewerbsvorteil verstanden wurde, zeigt sich heute im Kontext der Covid-19-Pandemie als kurzfristige, existenzbedrohende Herausforderung.
Im Zuge der Digitalen Transformation der Lebensmittelindustrie lassen sich zunächst widersprüchlich anmutenden Zielgrößen, wie Robustheit der Supply Chain, Flexibilität in der Produktion und effiziente Unternehmensprozesse, zunehmend vereinen. Die Kernidee von Industrie 4.0 ist das systematische und automatisierte Lernen aus Daten, um schneller zu besseren Entscheidungen zu gelangen. Datenbasiertes Lernen wird durch integrierte Informationsflüsse ermöglicht, die sich horizontal über alle technischen und geschäftlichen Prozesse und vertikal vom Shopfloor bis zur Konzernebene bzw. ins Wertschöpfungsnetz erstrecken. Dabei wird Agilität zum zentralen Treiber der Digitalen Transformation und der „neuen Normalität“. In der Praxis geht es über Pilotprojekte und Proofs-of-Concept hinaus mittlerweile um eine effiziente Implementierung und die tatsächliche Realisierung von Synergien und Skalierungseffekten. Die große Herausforderung für Unternehmen besteht darin, Aktivitäten entsprechend der strategischen Unternehmensausrichtung in einem koordinierten Programm voranzutreiben. [1]
Der „Acatech Industrie 4.0 Maturity Index“ als strukturierendes Rahmenwerk
Der Acatech Industrie 4.0 Maturity Index ist ein Tool, das produzierende Unternehmen dabei unterstützt, den Fortschritt ihrer Digitalen Transformation einzuschätzen, bestehende Lücken aufzudecken und einen priorisierten und koordinierten Maßnahmenplan, eine Roadmap, abzuleiten. Er wurde unter dem Dach der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) als Quasi-Standard für die deutsche Industrie entwickelt und hat sich seit Veröffentlichung 2017 als international anerkanntes Rahmenwerk etabliert. Durch das Industrie 4.0 Maturity Center wurde er mittlerweile in mehr als 70 internationalen Industrieprojekten, vielfach in der Lebensmittelindustrie, erfolgreich angewandt und steht über eine Online-Plattform auch lizensierten Nutzern zur Verfügung. Neben der Anwendung als Standard-Werkzeug werden über die Plattform umfängliche Benchmarks und die Quantifizierung von Nutzenpotentialen angeboten, um Unternehmen bei der Ressourcenallokation zu unterstützen.
Der Index basiert auf sechs Reifegradstufen, die den Transformationsprozess nach seinem schrittweisen Wertbeitrag strukturieren. Während auf den unteren beiden Stufen durch Computerisierung und Konnektivität die Grundlagen gelegt werden, beginnt Industrie 4.0 mit der dritten Stufe. Ausgehend von der Sichtbarkeit von Informationen wird die Transparenz über das Geschehen verbessert, Prognosefähigkeit entwickelt und schließlich auf der letzten Stufe eine Adaptierbarkeit der cyberphysischen Objekte im Produktionssystem erreicht (Abb. 2). Durch die ganzheitliche Betrachtung von vier Gestaltungsfeldern schließt der Index neben den technologischen auch die organisationsspezifischen Aspekte von Industrie 4.0 ein. Dazu zählen die Organisationsstruktur sowie Kultur, die gleichbedeutend mit den Ressourcen und Informationssystemen Berücksichtigung finden (Abb. 3). [2,3]
Anwendung am Beispiel einer Schokoladenproduktion
Die Indexanwendung soll nachfolgend am Beispiel der Schokoladenproduktion erläutert werden, die viele Charakteristika der Lebensmittelindustrie vereint. Dazu gehören typischerweise heterogenen Produktionslandschaften, kombinierte Batch- und Stückproduktion, hohe Produktvielfalt und große Unterschiede in der Automatisierung und Konnektivität der Anlagen. Basierend auf Projektergebnissen für verschiedene Standorte mehrerer internationaler Schokoladenhersteller wird beispielhaft ein europäisches Werk mit mittlerer vierstelliger Mitarbeiterzahl betrachtet, in dem diverse Schokoladenprodukte hergestellt und verpackt werden.
In einer einwöchigen Gap-Analyse wurde durch Prozessbegehungen und Interviews sukzessive der Status quo des Werks herausgearbeitet. Sofern ein Vor-Ort-Besuch nicht möglich ist, kann diese Phase auch remote umgesetzt werden. Der Fokus lag dabei auf den in einem anfänglichen Strategie-Workshop definierten individuellen Industrie 4.0-Potentialen Produktivitätserhöhung, Kostenreduktion und Effizienzsteigerung administrativer Prozesse. Die Analyse umfasste die zentralen Prozesse der Wertschöpfungskette - neben der Produktionsplanung, der Produktion und der Logistik zählen dazu auch die Qualitätssicherung und die Instandhaltung.
Für das gesamt Werk wurde ein übergeordneter Reifegrad von 2,4 ermittelt, wobei der Wert zwischen einzelnen Dimensionen und Wertschöpfungsprozessen mit einer Streuung von 1,7 bis 3,1 stark variiert (Abb. 3). Organisationsstruktur und Kultur sind im Durchschnitt bereits etwas weiter entwickelt. Enge abteilungsübergreifende Kollaboration, die Anwendung von Lean-Methoden, ein funktionierender KVP-Prozess und flache Hierarchien begünstigen den Wandel. Während Mitarbeiter Veränderungen allgemein offen gegenüberstehen, ist die Formalisierung von Wissen ausbaufähig.
Betrachtet man die Ressourcen und Informationssysteme, zeigt sich, dass vor allem ein gestörter Informationsfluss die digitale Transformation bremst. Bis auf Pilotprojekte sind Anlagen noch nicht an die IT-Systeme angebunden und Verfahrens- wie Anlagendaten stehen nicht digital, sondern allenfalls papierbasiert sowie durch manuelle Dokumentation und Übertragung fehlerbehaftet zur Verfügung. Die unzureichende Integration der IT-Systeme (ERP, MES, LIMS) führt zu Medienbrüchen und resultiert in einer manuellen Datenanalyse.
Roadmap zur Priorisierung und Koordinierung der Aktivitäten
Die Roadmap koordiniert Aktivitäten mit Fokus auf bestehende Abhängigkeiten und ihren sukzessiven Wertbeitrag. Auf Basis des Status quo konnte ein Paket konkreter Maßnahmen abgeleitet, priorisiert und in Beziehung gesetzt werden. Die entwickelte Roadmap konzentriert sich zunächst auf die identifizierten Defizite auf den Stufen Computerisierung und Konnektivität. Sind diese behoben, wird durch eine gleichförmige Entwicklung in allen vier Gestaltungsfeldern ein Fortschreiten in umfassende Transparenz bis hin zu teilweiser Prognosefähigkeit skizziert.
Insgesamt 33 Maßnahmen sind definiert und drei Handlungssträngen zugeordnet, die auf die Vernetzung der Administrationsprozesse, die Integration des Produktionssystems und eine gesteigerte Innovationsproduktivität ausgerichtet sind (Abb. 4). An konkreten Beispielen lässt sich der Zusammenhang und gemeinsame Wertbeitrag einzelner Maßnahmen aufzeigen.
So werden bisher nicht berücksichtigte kurze Anlagenstopps für eine erste Analyse zunächst manuell erfasst. Langfristig wird die Dokumentation im MES abgebildet und der Effekt auf die Gesamtanlageneffektivität nicht nur sichtbar, sondern kontrollierbar. In den Verpackungslinien erlauben vernetzte Waagen eine automatische Gewichtskontrolle. Durch Analyse der digital verfügbaren Daten konnte eine präzisere Annäherung an Füllmengenanforderungen und damit eine geringere Produktverschwendung erreicht werden. Schließlich ermöglicht die automatisierte Dokumentation und digitale Zusammenführung von Produkt- und Prozessinformationen eine erhebliche Reduzierung manueller Aufwände und deutlich schnellere sowie belastbarere Rückverfolgbarkeit von Materialien und Produkten.
Am Beispiel des betrachteten Schokoladenwerks zeigt sich, wie innerhalb von zwei bis drei Wochen ausgehend von einer detaillierten Status Quo-Analyse eine koordinierte und nutzenorientierte Roadmap entwickelt werden kann. Dazu analog lässt sich mit dem Industrie 4.0 Maturity Index auch das Transformationsprogram für andere Sektoren der Lebensmittelindustrie gestalten und auf Konzernebene koordinieren. Weitere Informationen finden Sie in unserem Whitepaper „Insights from the Food and Beverage Industry”[1].
Literatur
[1] Schmitz, S., Hagemann, M.: Industrie 4.0 at scale. Insights from the food and beverage industry, Industrie 4.0 Maturity Center, Aachen, 2020
[2] Schuh, G., et al.: Industrie 4.0 Maturity Index. Die digitale Transformation von Unternehmen gestalten (acatech Studie), München, 2017
[3] Schuh, G., et al.: Industrie 4.0 Maturity Index. Die digitale Transformation von Unternehmen gestalten – UPDATE 2020 – (acatech Studie), München, 2020