MTP – von der Theorie in die Prozessindustrie

NAMUR, PNO, ProcessNet, VDMA und ZVEI haben im vergangenen Jahr den herstellerunabhängigen Schnittstellenstandard Module Type Package (MTP) anhand von realen Anwendungsfällen vorgestellt. Was technisch möglich ist und wie das flexible Konzept weitergedacht wird, hat der ProcessNet Demonstrator aus dem Arbeitsausschuss modulare Anlagen (AA-MODA) gezeigt. Was es jetzt braucht, sind Aufträge von Anwendern an die Entwickler.

Gemeinsame Demonstratoranlage der ProcessNet und TaskForce Safety-MTP....
Gemeinsame Demonstratoranlage der ProcessNet und TaskForce Safety-MTP. Insgesamt waren beteiligt: ABB, Endress + Hauser, Festo, Fink CT, HIMA, Pfaudler, Process-to-Order Lab, Semodia, TU Dresden. © Winterbauer, Pfaudler

Über 30 Firmen zeigten 2022 am Achema-Gemeinschaftsstand den aktuellen Stand der MTP-Schnittstelle in zahlreichen Demonstratoren und Produkten. Während zur Achema 2018 eine Vielzahl von Demonstratoren noch ein Proof of Concept umsetzten, konnten nun etablierte Produkte die Umsetzung des MTP als zukunftsweisende Schnittstelle in der Automatisierungstechnik demonstrieren. Die mit MTP ausgestatteten Module verschiedener Modul- und Anlagenbauer, automatisiert mit Steuerungen verschiedener Automatisierungshersteller, ließen sich fast nahtlos per plug&play aus den Process Orchestration Layern (POL) verschiedener Hersteller ansteuern.

Funktionsbaugruppen integrieren

Anlagenbetreiber wollen flexibel ihre Anlagen betreiben und setzen daher verstärkt auf die Konfiguration mittels modularer Anlagen. Dabei helfen automatisierte PEAs mit eigener Steuerungslogik und Diensten, diese gekapselt zu integrieren. Möchte der Betreiber allerdings innerhalb einer PEA (Process Equipment Assembly) auf kleinerer modularer Ebene, z.B. den FEAs (Functional Equipment Assembly) einen Austausch umsetzen, so hat dies meist einen Eingriff in die Automatisierungstechnik zur Folge. Durch bereits automatisierte FEAs und Anbieten eines Dienstes auf FEA-Ebene, könnte der Austausch einer FEA auch in der Automatisierungstechnik komplett modular erfolgen. Mithilfe des MTP-Konzepts sollte somit auch auf FEA-Ebene durch die herstellerunabhängige MTP-Beschreibung ein herstellerübergreifender Tausch einer FEA möglich sein.

Formuliert wurden diese neuen Anforderungen von Seiten der Betreiber im Arbeitsausschuss Modulare Anlagen (AA-MODA) der ProcessNet, im Rahmen einer Workshop Serie mit Modulbauern diskutiert und schließlich in einem Demonstrator umgesetzt.

Für alle Seiten stellt das Entwickeln und Planen modularer Anlagen und deren Automatisierungstechnik einen Paradigmenwechsel dar, den es von Seiten der Betreiber und Modulhersteller in den kommenden Jahren gemeinsam zu bewältigen gilt. Bereits während der frühen Phase der Prozessentwicklung sollten modulare Planungsansätze berücksichtigt werden. Hilfestellung hierzu gibt bspw. die Planungsmethodik nach VDI-Richtlinie VDI 2776 mit der Beschreibung von PEAs und FEAs mittels Masterblockfließbildern[1]. Bereits in dieser Phase der Entwicklung spielt auch die Automatisierungstechnik eine wichtige Rolle, welche die prozesstechnischen Funktionen in automatisierungstechnische Dienste überführt. Letztere stellen somit die Brücke zwischen der Verfahrenstechnik und der Automatisierungstechnik dar. Beschrieben ist dies in der Handlungsempfehlung des VDI „Modulare Anlagen – Paradigmenwechsel im Anlagenbau: Zusammenspiel von Prozesstechnik und Automatisierungstechnik“[2].

In diesem Artikel werden folgend die unterschiedlichen Sichtweisen und Herangehensweisen von Modulherstellern, Betreiber und Automatisierer beschreiben und wie sich der Paradigmenwechsel auf das Entwickeln einer PEA auswirkt.

Stand der Technik

Mit Veröffentlichung der Blätter 2 & 3 der VDI 2776 als Entwurf sowie der Finalisierung der VDI/VDE/NAMUR 2658 Blatt 4 in 2022 sind wichtige Meilensteine erreicht, die die Anwendung der Modularisierung und insbesondere der modularen Automatisierung in der Industrie ermöglichen. Die Core-Specification für den Betrieb modularer Anlagen ist veröffentlicht und auch die akademischen Konzepte zur Orchestrierung[3] und POL-Systeme stehen zur Verfügung[4].
Es wird klar, dass die Modularisierung mit MTP keine reine Integrationstechnologie bleibt, sondern insbesondere die Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren ändert. Insbesondere der Nutzen der Technologie und der geänderten Interaktion öffnet neue Möglichkeiten, welche im Folgenden betrachtet werden sollen.

© ABB

 

Sichtweise der Modul-Hersteller

Die Modularisierung erlaubt den Modulherstellern, in funktionsorientierten Einheiten zu planen und zu bauen. Einzelne Prozesseinheiten, bspw. ganze Reaktoren inkl. Wärmemantel und Kondensatoren oder präzise Feindosierpumpen, können vorbereitet und automatisiert werden. Die Automatisierung gemäß des MTP-Konzepts erleichtert hierbei die Interaktion zwischen Modulherstellern und Automatisierung. Über die gemeinsame Definition der Funktionen und gewünschter Parameter kann bereits ein vollständiges MTP generiert werden. Ab hier besteht ein gemeinsamer Konsens über die zu erfüllenden Funktionen, die von beiden Parteien unabhängig erfüllt werden können – festgehalten in der MTP-Datei. Bei einer gemeinsamen Inbetriebnahme werden Automatisierung und Apparate miteinander verheiratet. Die gemeinsam definierten Funktionen dienen dabei als Testspezifikation für die erfolgreiche Inbetriebnahme.

Als Anlagenbauer und Lieferant kompletter modularer Anlagen sieht Pfaudler Normag Systems großes Zukunftspotenzial in der modularen Automation. Mit Modulen lassen sich bestehende Anlagen schnell erweitern oder ergänzen. Die modulare Automation trägt dazu bei, dass geprüfte, vorqualifizierte Module am Aufstellungsort in kürzester Zeit in die Gesamtanlage integriert und schnell in Betrieb genommen werden können.

Seitens Fink Chem+Tec, als Pumpenhersteller, eröffnen sich durch die neue MTP-Technologie Chancen und neue Märkte. Aus langjähriger Erfahrung hat Fink Chem+Tec diverse Versuche gesehen, eine Standardisierung von Schnittstellen auf den Weg zu bringen. Im Arbeitskreis AA-MODA hat sich jetzt ein sehr breites Interesse von Lieferanten als auch Anwendern gezeigt, so dass an den Erfolg von MTP festgehalten wird. Es wird nicht davon ausgegangen, dass es schließlich das eine Dosiermodul geben wird. Wie bei verschiedenen Einzelpumpen in der Vergangenheit wird es immer individuelle Module für Anwender geben. Dieser sollte aus einem Modulbaukasten kundenspezifisch konfiguriert werden können. Der große Vorteil wird sich für den Anwender ergeben, der alle notwendigen Komponenten für die Dosieraufgaben aus einer Hand, fertig montiert, verkabelt und geprüft erhält.

Besonders im Umfeld der Produktentwicklung mit häufig wechselnden Aufgaben sieht Fink Chem+Tec große Vorteile bei schnell anpassbaren Laboraufbauten. Die FEA-Module sollen sich nahtlos in eine Dosier-PEA einfügen lassen. So wird die Flexibilität und Modularität des MTP und des PEA-FEA Konzepts voll ausgeschöpft, wie der Demonstrator erfolgreich gezeigt hat.

© ABB

 

Automatisierungstechnik wird flexibler

Mit einer entsprechenden Software-Lösung auf der Automatisierungsebene wird Modularität auf allen Ebenen des modularen Konzepts ermöglicht und die Integration von FEAs in PEAs mittels MTP unterstützt.

Die links in Abb. 1 abgebildtete PEA demonstriert die Kombination aus operativer und sicherheitsgerichteter Automatisierungstechnik in einem Modul mit zwei Dosiersträngen. Die Steuerung des operativen Betriebs erfolgt durch eine Festo-Steuerung. Für die Implementierung der Abläufe wurde die Bausteinbibliothek „PA-Toolkit“ verwendet, um die Konformität der MTP-Schnittstellen und deren Orchestrierung zu gewährleisten. Die Ventileinheiten, bestehend aus einem Medienventil, einem pneumatischen, rotativen Antrieb und einer Sensorbox, sind ebenfalls von Festo. Deren Ansteuerung erfolgt über eine an die Steuerung angebundene Ventilinsel. Dieses pneumatische Stellsignal kann direkt am Antrieb der Ventileinheit durch ein ergänzendes Sicherheitsventil unterbrochen werden, um die Sicherheitsposition der Ventileinheit zu garantieren. Die operative und die sicherheitsgerichtete Steuerung können also parallel laufen, ohne zu konkurrieren.

Die Automatisierung des zweiten Teils des Demonstrators (Abb. 1, rechts) wurde durch ABB umgesetzt. So konnte eine Dosier-FEA (gestellt von Fink Chem+Tec und automatisiert von Semodia) in eine PEA (gestellt von Pfaudler Normag Systems) intergiert werden. Die FEA lässt sich als MTP im Modul-Engineering-Tool von ABB integrieren. Die Grafikinformationen aus dem MTP der FEA sind somit im Engineer­ing der PEA sofort verfügbar. Die Prozessgrafik der PEA wird anschließend vollständig dargestellt (Abb. 2). Das Grafikbild der FEA wird als Vorschau im Engineering eingebettet und ist nicht veränderbar.

Neben HMI sind auch die Services der FEA durch die MTP-Integration im Modul-Engineering verfügbar und können in der Konfigurationsmaske der PEA-Services verwendet werden. Somit kann ein übergeordneter Dosieren-Service der PEA, den Dosieren-Service der FEA aufrufen und diesen mit weiteren Prozessfunktionen der PEA verknüpfen. Die FEA wird nur auf Service-Ebene in die Programmierung einbezogen. Dabei behält die FEA ihre eigene Intelligenz für ihren Dosieren-Service. Alle Informationen werden in dem aggregierten MTP der PEA gesammelt zur Verfügung gestellt und können für die Integration in eine POL genutzt werden.

Abbildung oben zeigt das Grafikbild der PEA mit enthaltener FEA (unten rechts) im ABB Modul-Engineering-Tool. Die FEA wird per Drag and Drop aus der verfügbaren Grafikbibliothek in das Gesamtbild eingefügt. Durch einen Rahmen um die Grafiksymbole, mit entsprechender Bezeichnung der FEA, wird diese im Grafikbild gekennzeichnet. Abbildung oben zeigt die Live-Ansicht der importierten PEA im Orchestrierungssystem 800xA zur Laufzeit. Eine Abgrenzung zwischen PEA und FEA ist an dieser Stelle nicht mehr sichtbar.

Die Steuerung der PEA wird mit einem Freelance AC 700F Controller realisiert. Die Steuerung der FEA ist eine MTP-Box von Semodia. In die POL (ABB System 800xA) erfolgt die Integration ausschließlich mit dem MTP der PEA, da hier die Informationen zur Sensorik sowie die Funktionen der FEA bereits implementiert sind. In der POL sind alle Informationen der FEA sichtbar und können verwendet werden. Das Look-and-Feel der Grafiken, Services und Symbole unterscheidet sich dabei nicht von der PEA. Per Mausklick lassen sich auch für die FEA dynamisierte Objekte, wie z.B. Face­plates aufrufen. Für den Bediener der modularen Anlage ändert sich dadurch nichts am Handling.

 

© TU Dresden

 

Demonstrator-Anlage

Insgesamt wurden die beschrieben Ansätze in einem gemeinsamen Demonstrator realisiert. Die kleine modulare Anlage, bestehend aus einer PEA der TaskForce Safety MTP und einer PEA des ProcessNet Arbeitsausschusses, wurde koordiniert vom Process-to-Order Lab (TU Dresden), mit Automatisierungslösungen von ABB, Festo, Hima und Semodia, sowie Equipment und Instrumentierung von Endress+Hauser, Festo, Fink CT und Pfaudler aufgebaut. Die verschiedenen Systeme wurden dabei auf BPCS- und SIS-Ebene miteinander verknüpft und in jeweiligen Orchestrierungssystemen integriert. Eine nähere Beschreibung zum Demonstrator der TaskForce Safety-­MTP ist in der Literatur[5] zu finden. Hier soll der Fokus auf dem Demonstrator der ProcessNet liegen. Mit dem beschriebenem Engineering-Prozess in ABB kann die Gestaltung und Implementierung von Flexiblen PEAs weiter verstärkt werden.

Der Anwender ist gefragt

Die generelle Machbarkeit der Automatisierung mit MTP ist längst kein Forschungsthema mehr. Die Key-Player stecken alle in der Produktentwicklung und es gibt bereits die ersten verfügbaren Versionen. Es wird klar, die technischen Möglichkeiten wurden getestet und gezeigt, jetzt braucht es die Aufträge aus der Anwendung.
Dennoch stecken auch weiterhin verborgene Potenziale in der modularen Automation. Wie in dem hier vorgestellten Demon­strator gezeigt, öffnet sich durch das MTP nicht nur eine Plug&Produce-Integration auf unterschiedlichen Komplexitätsebenen, es werden auch die Engineering-Abläufe für den Bau und die Planung von Anlagen erneuert. Mithilfe einer durchgehenden Digitalisierungsstrategie werden diese Prozesse unterstützt. Es bleibt also spannend, welche Innovativen mit und rund um das MTP von den Herstellern und Betreibern weiterentwickelt werden.

Autoren: Lukas Bittorf, Projektleiter, Semodia
Anselm Klose, Florian Pelzer, wissenschaftliche Mitarbeiter,TU Dresden
Axel Haller, Technology & Portfolio Manager, ABB
Daniel Schmitt, Technical Sales Support, ABB
Alexander Kehl, Advanced Develop. System Dynamics, Festo
Andreas Fink, Geschäftsführer, Fink Chem+Tec
Hansjürgen Winterbauer, Head of Process Innovation – Systems, Pfaudler

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Logo:

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Meißner Straße 37
01445 Radebeul
Deutschland

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