Umgang mit Arbeitsunfällen
Arbeitsunfälle, vor allem solche mit geringen Auswirkungen, werden häufig nicht als Unfälle gemeldet – obwohl das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Eine Reihe von Maßnahmen kann helfen, diesen Zustand zu ändern und so die Arbeitssicherheit zu erhöhen
„Es gibt verschiedene Gründe, warum Arbeitnehmer sich scheuen, Arbeitsunfälle zu melden“, weiß Sicherheitsingenieur Stefan Ganzke. „Gerade sogenannte Bagatellunfälle werden häufig unter den Teppich gekehrt, weil es Mitarbeitern unangenehm ist, sich ihre eigenen Fehler einzugestehen. Auch mangelnde Kenntnis über die Meldepflicht oder die Angst vor negativen Konsequenzen können dazu führen, dass Unfälle nicht gemeldet werden. Das große Problem dabei ist, dass das Unternehmen aufgrund der Nichtmeldung keine Chance hat, geeignete Präventivmaßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu verbessern.“ Im Folgenden verrät Stefan Ganzke, warum Unfälle oft verschwiegen werden und was Arbeitgeber dagegen unternehmen können.
Hohe Dunkelziffer
Jahr für Jahr werden in Deutschland Tausende von Arbeitsunfällen gemeldet. In der offiziellen Statistik der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen werden am Ende jedoch nur die Unfälle aufgeführt, bei denen ein Mitarbeiter nach einem Unfall für mindestens drei Tage ausgefallen ist. Die Zahl der sogenannten Bagatellunfälle mit keiner oder geringerer Ausfallzeit ist dagegen deutlich höher. Aufgrund der Neigung vieler Arbeitnehmer, Arbeitsunfälle nicht zu melden, muss hier von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.
Herbert Heinrich, ein US-amerikanischer Pionier im Bereich des industriellen Arbeitsschutzes, entwickelte vor mehr als 30 Jahren die sogenannte Heinrich-Pyramide, um den Zusammenhang zwischen leichten Unfällen, Beinaheunfällen und schweren Unfällen zu verdeutlichen. Laut seines Pyramidenmodells kommen auf einen schweren Unfall 29 leichte Unfälle und rund 300 Beinaheunfälle. Obwohl es aktuell keine gleichwertige Statistik gibt, macht es grundsätzlich durchaus Sinn, sich an der Heinrich-Pyramide zu orientieren. So erlauben die Berufsfelder Holz und Metall z. B. den Rückschluss, dass die Zahlen, von denen Herbert Heinrich bereits vor Jahrzehnten ausging, durchaus valide sind: Hier ereignen sich bei 1.000 Mitarbeitenden etwa 33 Arbeitsunfälle pro Jahr. Klar ist auch, dass gerade die Zahl der Beinaheunfälle enorm ist – und daher auf jeden Fall bei der Prävention von Arbeitsunfällen berücksichtigt werden sollte.
Warum Arbeitsunfälle oft nicht gemeldet werden
Falsches Mindset: Arbeitsunfälle gehören zum Arbeitsalltag – ebenso wie ihre fachgerechte Meldung. Doch viele Arbeitnehmer neigen dazu, Arbeitsunfällen nicht die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die eigentlich angemessen wäre. Häufig verbergen sich dahinter veraltete Glaubenssätze, die noch aus der Kindheit stammen. Durch Sprichwörter wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ bekommt man oft das Gefühl vermittelt, Schmerzen besser herunterzuschlucken, statt „Schwäche“ zu zeigen. Hinzu kommt, dass viele Mitarbeiter der Überzeugung sind, in gewissen Berufen seien Unfälle etwas ganz Normales und damit schlichtweg unvermeidbar. Das falsche Mindset zum Thema Arbeitsunfälle und Sicherheit am Arbeitsplatz ist damit ein Punkt, der das Nichtmelden zahlreicher Fälle begünstigt.
Aufwendige Prozesse: Auch die Meldeketten sind in vielen Unternehmen zu aufwendig. Gerade in produzierenden oder produktionsnahen Bereichen haben Arbeitnehmer meist nicht die Zeit, Arbeitsunfälle zu melden, wenn das einen Rattenschwanz an Bürokratie nach sich zieht. Um den Aufwand für Mitarbeiter und Führungskräfte möglichst gering zu halten, wird daher vor allem bei leichten Unfällen eher auf eine Meldung verzichtet. Ähnliches gilt für den Analyseprozess, der in vielen Unternehmen so gestaltet ist, dass Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis stehen. Wenn ein kleiner Schnitt genauso behandelt wird wie eine abgetrennte Fingerkuppe, muss sich definitiv etwas im Unternehmen ändern.
Strenge Sanktionen: Natürlich sind arbeitsrechtliche Konsequenzen im Falle schwerwiegender Arbeitsunfälle manchmal unumgänglich – sie sollten aber nicht das erste Mittel sein, um Unfällen vorzubeugen. Eine Atmosphäre der Angst, in der die Mitarbeiter regelmäßig für unsichere Verhaltensweisen bestraft werden, trägt nämlich nur zusätzlich dazu bei, dass Arbeitsunfälle nicht gemeldet werden, weil das Personal negative Auswirkungen fürchtet.
Unrealistische Ziele: Ebenso wirkungslos wie strenge Sanktionen sind sogenannte Null-Unfall-Ziele. Im schlimmsten Fall lockt das Unternehmen seine Mitarbeiter mit Prämien, die das Team z.B. im Anschluss an ein unfallfreies Jahr erhält. Das große Problem dabei ist, dass Arbeitnehmer im Ernstfall eher geneigt sind, einen Unfall zu vertuschen – schließlich möchten sie auf keinen Fall diejenigen sein, durch deren unsicheres Verhalten das gesamte Team seine Prämie verliert. So entsteht für die Mitarbeiter durch Null-Unfall-Ziele also ein immenser Druck, der es am Ende unmöglich macht, Unfallursachen zu identifizieren und zu beheben, was wiederum zu weiteren Unfällen führen kann – ein Teufelskreis, den es zu vermeiden gilt.
Maßnahmen für Arbeitgeber: so sollten sie reagieren
Regelmäßige Mindsetarbeit: Glücklicherweise gibt es durchaus Maßnahmen, die Unternehmen umsetzen können, um ihre Mitarbeiter im Falle eines Arbeitsunfalls zu einer Meldung zu ermutigen. An erster Stelle sollten dabei das Mindset und die Glaubenssätze des Personals stehen. Durch regelmäßige Workshops, in denen Interaktion und Gruppenarbeit nicht zu kurz kommen, kann konkret mit den Mitarbeitern und Führungskräften an deren Haltung zum Arbeitsschutz gearbeitet werden. Wichtig ist, dass den Teilnehmern nicht nur allgemeines Wissen vermittelt wird, sondern dass sie begreifen, welche persönlichen Vorteile der Arbeitsschutz für sie hat. So kann nach und nach ein Wandel in der Denkweise stattfinden, der wiederum das Fundament für den Weg in die intrinsische Motivation im Hinblick auf die Sicherheit am Arbeitsplatz und die damit verbundene Meldung von Arbeitsunfällen ist.
Vereinfachte Prozesse: Zusätzlich sollten auch die Meldewege und der Analyseprozess möglichst einfach gestaltet werden. Dabei helfen z.B. technische Lösungen wie eine App oder eine Software, über die Arbeitsunfälle schnell und unkompliziert gemeldet werden können. Auch ein systematischer Fahrplan mit individuellen Maßnahmen hilft dabei, eine Sicherheitskultur zu entwickeln, in der Arbeitsunfälle unproblematisch gemeldet werden können. Wichtig ist, dass die Schutzmaßnahmen das Unternehmen nicht überfordern, weshalb es üblicherweise ratsam ist, den Fahrplan auf mehrere Jahre auszulegen.
Offene Fehlerkultur: Um Mitarbeiter dazu zu ermutigen, Arbeitsunfälle ohne Angst zu melden, ist eine offene Gesprächskultur, in der Fehler ehrlich zugegeben werden können, essenziell. Sanktionen und Abmahnungen sollten dagegen das letzte Mittel sein, das Unternehmen ergreifen. Stattdessen sollte dem Personal vermittelt werden, dass sie das Richtige tun, indem sie unsichere Verhaltensweisen offen und ehrlich ansprechen.
Realistische Ziele: Zu guter Letzt sollten Unternehmen unbedingt auf toxische Null-Unfall-Ziele verzichten. Besser sind realistische Ziele, die einen Wandel im Safety Mindset anpeilen. Ein gutes Beispiel für sinnvolle Ziele sind halbjährliche Begehungen oder monatliche Sicherheitsgespräche. Auf jeden Fall braucht es eine Regelkommunikation des Arbeitsschutzes im Betrieb. Je häufiger Sicherheit ein Thema ist, desto nachhaltiger findet tatsächlich eine Veränderung statt und desto höher ist die Meldemoral bei Arbeitsunfällen.
Autor: Stefan Ganzke, Geschäftsführer der WandelWerker Consulting