Kommunikationsprozesse digitalisieren

Die meisten Notfallpläne haben das Corona-Virus nicht in Betracht gezogen. Für eine schnelle Anpassung der Produktionsbetriebe ist die Digitalisierung der Kommunikationsprozesse nötig

© eschbach GmbH
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Persönliche Besprechungen, Schichtübergaben, KVP- und Lean Meetings oder Frühbesprechungen – nichts konnte wie gewohnt beibehalten werden. Produktionsbetriebe mussten sich schnell anpassen und auf eine „neue Normalität“ einstellen. Die Digitalisierung von Kommunikationsprozessen ist ein entscheidender Baustein in dieser neuen Normalität.

Die stärkste und effektivste Kommunikationsform ist das persönliche Gespräch. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie war diese Kommunikationsform selbstverständlich. Social Distancing und der Einfluss von Corona auf die Organisation der Schichtarbeit haben jedoch die einst normale Kommunikation zwischen Produktionsteams auf den Kopf gestellt.
Auch wenn die Pandemie ein Extremfall sein mag, so erfordert jede Krise Belastbarkeit, Agilität und persönlichen Einsatz. Künstliche Intelligenz (KI) wird zu einem immer größeren Erfolgsfaktor und wird in immer mehr Abläufe in Produktionsunternehmen integriert. In den Prozessindustrien wird die künstliche Intelligenz jedoch nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn menschliche Intelligenz als Teil der Lösung einbezogen wird, insbesondere in Situationen, in denen gefährliche und komplexe Prozesse von hoch qualifizierten und erfahrenen Experten betrieben werden.

Das Konzept zur Reaktion auf die Krise
Für den Betrieb in Prozessanlagen sind drei Bereiche von entscheidender Bedeutung, um auf die Krise zu reagieren:

  • Agilität der Produktionsteams: Die Verfügbarkeit von Schichtteams muss sichergestellt und das Infektionsrisiko von Schicht zu Schicht muss eingedämmt werden.
  • Remote Team- und Anlagenmanagement: Betriebsleiter und Prozessingenieure müssen aus der Ferne effektiv und effizient arbeiten können.
  • Außerordentliche Weisungen und Notfallpläne: Betriebe müssen darauf vorbereitet sein, ihr Produktionsteam zu verkleinern und Notfallmaßnahmen einzuleiten.

Agilität der Produktionsteams
Die Schichtübergabe ist ein neuralgischer Punkt im Anlagenbetrieb. Informationen werden sowohl schriftlich als auch in mündlicher Form von einer Schicht zur nächsten übertragen. Der mündliche Informationsaustausch lässt sich am besten in Form eines persönlichen Treffens durchführen. Aus diesem Grund überschneiden sich im Vollkonti-Betrieb die Schichten in der Regel für 15 - 30 Minuten. Mit dem gegebenen Infektionsrisiko könnte genau diese zeitliche Überschneidung das größte Risiko bedeuten. Daher muss die persönliche Kommunikation durch ein Telefon- oder Videokonferenz-Gespräch ersetzt werden.

Eine durchdachte digitale Lösung kann eine virtuelle Übergabe ermöglichen. Eine solche Lösung muss sicherstellen, dass bei Schichtende und vor dem Verlassen des Kontrollraumes alle notwendigen Informationen eingesammelt wurden und dass all diese Informationen komplett an das folgende Schichtteam übergeben wurden. Darüber hinaus müssen Schichtformulare an die Bedürfnisse des Informationstransfers anpassbar sein und Revisionssicherheit der Informationen gegeben sein.

Normalerweise treffen sich beide Schichtleiter am selben Computer. Beim gemeinsamen Blick auf den Bildschirm fällt es den Schichtleitern leichter, Lücken im Protokoll zu erkennen und Informationen nachzutragen. Die Betriebsbedingungen während einer Pandemie bedeuten, dass die Schichtübergabe schon im Vorfeld besser als bisher vorbereitet werden muss.

Ein geeignetes Verfahren umfasst die ­folgenden Schritte:

  • Bei der Vorbereitung der Schichtübergabe werden alle notwendigen Informationen schriftlich erfasst.
  • Das Schichtteam der vorherigen Schicht verlässt den Kontrollraum und führt alle eventuell vorhandenen Hygienemaßahmen durch, bevor das folgende Schichtteam den Raum betritt.
  • Sowohl die vorherige als auch die nachfolgende Schicht stellen sicher, dass es keinen physischen Kontakt gibt – niemals.
  • Der synchrone verbale Austausch zwischen den Schichtteams erfolgt entweder per Telefon oder über eine Videokonferenzlösung.

Bei jedem verbalen Austausch sollten sich beide Schichtleiter an dasselbe digitale Proto­koll halten – und damit eine einzige Quelle und Version als Wahrheit definieren. Dabei kann jeder Mitarbeiter seinen Computer, ein Tablet-­PC oder zumindest einen Ausdruck dieses Protokolls verwenden.

Das Schichtprotokoll im laufenden Betrieb vorbereiten
Komplexität und Vielfalt der Anlagen sind in der Prozessindustrie einzigartig. Folglich sieht jede Schichtorganisation etwas anders aus – sie umfasst lokal unterschiedliche Rollen mit spezifischen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten, bspw. für Anlagenfahrer und Schichtleiter. Darüber hinaus gibt es Verantwortlichkeiten für HSE (Health Safety and Environment), Qualität und GxP (Good Manufacturing Practices), welche unternehmensweit häufig standardisiert sind und an verschiedene Rollen geknüpft sein können.

Für das Schichtpersonal in den Anlagen ist es bei der Einführung von digitalen Lösungen vornehmlich wichtig, dass die Informationen nach Rollen der Schichtorganisation organisiert sind. Auf Unternehmensebene ist hingegen wichtig, dass einerseits globale Standards definiert werden können, aber auch eine lokale, anlagenspezifische Adaption möglich ist, um eine hohe Benutzerakzeptanz und damit einen effektiven Arbeitseinsatz zu erreichen.
Wenn ein Schichtmitarbeiter eine bestimmte Aufgabe ausführt oder bestimmte Beobachtungen macht, sollten immer die digitalen Formulare des Unternehmens verwendet werden, sei es eine Meldung zur Arbeitssicherheit, eine Arbeitserlaubnis oder eine Qualitätsabweichung. Es empfiehlt sich dabei eine hohe Standardisierung über das gesamte Unternehmen, so dass alle Teams und Standorte das gleiche Verfahren befolgen und ein einheitlich strukturierter Kommunikationsprozess durchgesetzt werden kann.

Eine digitale Lösung zur Schichtkommunikation und Dokumentation sollte auch eine dezentrale Datenerfassung ermöglichen. Jeder Mitarbeiter einer Schicht dokumentiert seine Informationen und gibt seine Daten selbst ein.
Jeder Datensatz sollte gleichzeitig auf allen Geräten verfügbar sein, damit die Schichtleiter die gesamte Dokumentation im Blick haben. Es ermöglicht den Schichtleitern entsprechend zu reagieren und die Informationen auch noch weiter anzureichern. Die Mitarbeiter auf Schicht sind die Augen und Ohren des gesamten Teams einer Prozessanlage. Sie können Videos und Fotos aufnehmen und mit jedem teilen – sogar mit Mitgliedern der Betriebs- und Standortleitung, die möglicherweise gerade im Homeoffice sind.

Die Schichtübergabe vorbereiten
Eine gute Schichtübergabe muss vorbereitet werden, da die ersten 3 - 4 Betriebsstunden der Folgeschicht de facto von der vorherigen Schicht bestimmt werden. Wenn sich eine Schicht dem Ende nähert, muss sich der Schichtleiter auf die Übergabe vorbereiten.

Abhängig von der Größe der Schichtteams sollten die Übergaben parallel mit Anlagenfahrern und Schichtleitern stattfinden. Der Umfang und die Protokolle dieser Übergaben müssen in einer Standardarbeitsanweisung (SOP) festgelegt werden, die von einer Schichtkommunikationslösung in einen digitalen Prozess überführt wird.
Beispiele für den Inhalt solcher Übergaben sind der Status von sicherheitskritischen Systemen, Produktions- und Anlagenstände, erledigte und offene Aufgaben sowie Prioritäten.

Durchführung der perfekten ­Schichtübergabe
Vielleicht ist die aktuelle Schicht nach einem langen Arbeitstag erschöpft, während die Folgeschicht gerade nach vier Tagen Pause in den Kontrollraum zurückkehrt und sich nun den Stand des Betriebs bewusst machen muss.
Vor dem Hintergrund dieser und ähnlich gelagerter Szenarien empfehlen Experten, dass eine Übergabe sowohl schriftlich als auch mündlich erfolgen muss.

Das Übergabegespräch per Videotelefonie folgt der Struktur des Übergabeprotokolls. Sowohl die vorherige als auch die Folgeschicht müssen auf ihren Bildschirmen das gleiche Protokoll sehen. Der Mitarbeiter der vorherigen Schicht leitet das Übergabegespräch, indem Position für Position des Protokolls besprochen wird.
Relevante Diskussionspunkte oder Ereignisse während einer Schicht sollten ebenfalls erfasst und als Zusatzinformation notiert werden. Es ist wichtig, dass die nächste Schicht und auch die Betriebsleitung, die möglicherweise aus der Ferne arbeitet, über alle Vorkommnisse im Bilde sind.

Effektives Arbeiten für Remote-Teams ermöglichen
Um die Infektionen auf Schicht zu reduzieren, werden Betriebsleitung und Prozessingenieure nicht mehr so oft wie sonst üblich Zugang zu den Kontrollräumen oder den Produktionsflächen haben.
Der Arbeitsplatz muss daher entsprechend flexibel gestaltet sein. Arbeiten, die nicht vor Ort in der Anlage durchgeführt werden müssen, werden aus der Ferne ausgeführt. Dazu muss die entsprechende Infrastruktur mit Fernzugriff bereitgestellt werden.

Das Schichtpersonal in der Anlage muss seine Beobachtungen kommunizieren und Zugang zu relevanten Informationen gewähren. Führungskräfte im Homeoffice müssen bei allen Anweisungen besonders präzise sein, sodass auch Schichtarbeiter, die nicht an einer zugehörigen Besprechung teilgenommen haben, die Aufgaben verstehen können.
Während der Pandemie sollte der Schichtkommunikations-Software eine tägliche Ampelbewertung hinzugefügt werden. Diese Bewertung kann jeden Tag anhand relevanter Kriterien durchgeführt und für jeden im Kon­trollraum als auch für das Personal außerhalb der Anlage sichtbar gemacht werden.

Logbücher und Protokolle digitalisieren
Nur weil aus der Ferne zusammengearbeitet wird, sollte die tägliche E-Mail-Flut nicht noch größer werden.
Bei der Schichtkommunikation sollte von einem seitenbasierten Ansatz zu einem datensatzorientierten Ansatz gewechselt werden, der in der Softwarelösung zur Schichtübergabe implementiert werden kann.
Die Bereitstellung mehrdimensionaler Ansichten und die Verbindung von Datensätzen über mehrere Schichtberichte hinweg ist ein großer Vorteil für die tägliche Kommunikation. Wenn bspw. einzelne Einträge in einem Schichtprotokoll mit einer roten Flagge gekennzeichnet werden, können nur diese Einträge später aus allen Bereichen der Anlage zusammenaggregiert und aufgelistet werden, bspw. für eine übersichtliche und fokussierte Frühbesprechung.

Maßnahmen in Pandemiezeiten
Der Zugang zu Kontrollräumen sollte beschränkt werden. Über ein digitales Schichtanwesenheits-Dokument für die Besetzung vor Ort werden die Anwesenheiten nachvollziehbar. Dabei ist sicherzustellen, dass alle Personen notiert werden, die den Kontrollraum betreten haben, z. B. ein Betriebsleiter oder eine Instandhaltungsfirma zur Lösung eines dringenden Problems. Dies hilft bei der Rückverfolgung der Personen, die möglicherweise infiziert worden sind, falls jemand im Betrieb positiv auf COVID- 19 getestet wird.

Die Herausforderungen durch die Corona-­Pandemie erfordern viel Agilität von der Betriebsleitung, von Prozessingenieuren und von den Schichtteams. Die Sicherheit muss jedoch Priorität haben. Über den Einsatz von befristeten Anweisungen, wie sie in einer Schichtkommunikationslösung digital zur Verfügung stehen, erhöht sich die Agilität und Belastbarkeit des Betriebs, zugleich wird die Kommunikation klar und die Organisation bleibt stabil.

Der Autor
Andreas Eschbach, Geschäftsführer Eschbach

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