Mehr Kraft, Ausdauer und Sicherheit mit Exoskeletten
In der Rehabilitationsmedizin kommen Exoskelette schon lange Zeit erfolgreich zum Einsatz. Als den Körper anliegende mechanische Strukturen stabilisieren und entlasten sie sowohl Gliedmaßen als auch den Rumpf. Inzwischen verbreiten sich diese Assistenzsysteme auch im industriellen Umfeld.
Wissenschaftliche Studien belegen: Exoskelette können die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern. Dies gilt auch für viele Arbeitsplätze und Tätigkeiten in der Chemieindustrie. Sie reichen von der Entlastung des Rückens beim regelmäßigen Heben von Lasten bis zur Unterstützung beim Pipettieren.
Längst keine Zukunftsmusik mehr
Bei Exoskeletten denken wir zumeist an futuristisch anmutende, körpergetragene Hebehilfen, die Menschen ein wenig wie Roboter wirken lassen. Doch Exoskelette sind keine Zukunftsmusik mehr und die Vielfalt ihrer Gestalt und Anwendung ist beeindruckend. Ein kleiner Überblick soll dabei helfen, das enorme Potenzial zu erkennen, das diese Technologie besitzt – für ein nachhaltig gesundes sowie sicheres und dadurch zugleich besonders produktives und qualitativ hochwertiges Arbeiten.
Zunächst gilt es zwischen Exoskeletten zu unterscheiden, die motorbetrieben sind und solchen, welche die körpereigene Energie der Nutzerinnen und Nutzer verwenden. Motorbetriebene Systeme verfügen über elektrische oder pneumatische Antriebe zur Unterstützung bestimmter Körperpartien. Sie benötigen eine externe Energieversorgung wie eine Batterie. Dadurch sind sie spürbar schwerer und deutlich teurer als Modelle, die mit körpereigener Energie funktionieren.
Exoskelette ohne Motor unterstützen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, indem sie Kräfte durch mechanische Federsysteme umleiten. Bei weiterentwickelten Modellen kann dabei Energie bei Bedarf sogar zwischengespeichert werden. Diese Technologie bezeichnet man als „Energy Harvesting“: Beim Absenken des Oberkörpers oder der Arme wird Energie „geerntet“, die dann zielgerichtet freigesetzt wird, wenn Belastungsspitzen in der Schulter oder für die Wirbelsäule auftreten.
Heben, Tragen, Arbeiten in Zwangshaltungen
Exoskelette zielen im Arbeitsumfeld darauf ab, die Auswirkungen physischer Tätigkeiten auf den Körper zu reduzieren. Eine der verbreitetsten Anwendungen von Exoskeletten ist das Heben und Tragen schwerer Gegenstände. Entlastung bieten Exoskelette ebenso bei Arbeiten in Zwangshaltungen. Dazu zählen vor allem die kniende Position oder das weit verbreitete Überkopfarbeiten. In ähnlicher Weise können Exoskelette bei statischer Haltungsarbeit unterstützen. Das ist z.B. der Fall bei vorgebeugter Körperhaltung an einem Fließband oder bei hochpräzisen manuellen Arbeiten in Laboren.
Einer der führenden Anbieter von Exoskeletten für die Arbeitswelt ist Ottobock. Auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrung in der Entwicklung und Herstellung medizinscher Prothesen und Orthesen hat das Unternehmen eine breite Palette an Exoskelett-Produkten aufgebaut, die es Menschen ermöglicht, gesundheitsschonend und langfristig produktiv ihrer Arbeit nachzugehen.
Im Folgenden einige Beispiele dieser Exoskelette – verbunden mit einem Ausblick auf typische Einsatzbereiche.
Exoskelette für die Entlastung des Rückens
Paexo Back wurde zusammen mit Logistikexperten und Mitarbeitern von Warenlagern und Paketverteilzentren entwickelt. Dieses Exoskelett funktioniert nach einem biomechanischen Prinzip: Die Last wird wie bei einem Rucksack an der Schulter abgenommen und in die Oberschenkel umgeleitet. Der Energiespeicher nimmt beim Beugen Kraft auf und gibt sie beim Heben wieder ab. Dies führt zu einer deutlichen Entlastung des Rückens bis zu 25 kg. Die Unterstützungskraft lässt sich stufenlos auf die Belastung unterschiedlicher Arbeitsschritte einstellen.
Wie in anderen Branchen ist das Einsatzpotenzial in der chemischen Industrie groß. Beispiele sind die Materialentnahmen aus Maschinen, die Warenentnahme aus Regalen oder Fahr- und Förderzeugen, Verpackung und Versand. Angesichts der großen Bandbreite an Verpackungsformen von Rohstoffen und fertigen Produkten in der Chemieindustrie gehören Flexibilität und eine hohe Adaptionsfähigkeit der Exoskelette zu den erfolgsentscheidenden Faktoren.
Exoskelette für Überkopfarbeit
Speziell für anstrengende Tätigkeiten bei der Überkopfarbeit wurde das Paexo Shoulder entwickelt, das mit einer mechanischen Seilzugtechnik das Gewicht der erhobenen Arme auf die Hüfte ableitet. Das schont spürbar die Muskeln und Gelenke im Schulterbereich und Tätigkeiten über Kopf lassen sich deutlich komfortabler ausführen. Ergänzend können Exoskelette in Form von Nackenstützen eingesetzt werden, welche den Nackenbereich und die Halswirbelsäule entlasten.
Insbesondere im Betrieb und bei der Wartung, Prüfung und Instandsetzung verfahrenstechnischer Anlagen führt das regelmäßige Überkopfarbeiten zu körperlichen Belastungen. Die Unterstützung durch Exoskelette fördert hierbei die Ausdauer als auch die Prävention langfristiger Beschwerden, vor allem in den besonders anfälligen Bereichen von Schulter sowie der oberen Wirbelsäule.
Exoskelette für stehende Tätigkeiten
Das Exoskelett Paexo Soft Back bietet ein hohes Maß an Unterstützung für den unteren Rückenbereich. Im Stehen und beim Heben unterstützt es eine ergonomische Körperhaltung.
Angewendet werden kann es bspw. beim Kommissionieren, bei der Handhabung von leichteren Lasten und dem Heben von Paketen. Auch bei längeren Bedien- und Montagetätigkeiten im Stehen unterstützt es die untere Wirbelsäule.
Exoskelette für Finger und Daumen
Spezielle Exoskelette unterstützen Menschen, die in der täglichen Arbeit ihren Daumen oder einzelne Finger beanspruchen. Die mechanische Konstruktion entlastet sowohl die End- als auch die Sattelgelenke. Darüber hinaus wird die Kuppe vor mechanischen Einwirkungen geschützt. Paexo Thumb bspw. reduziert die Belastungen des Daumengelenks um bis zu 70 %, indem das kleinste Exoskelett der Welt die Kräfte in die gesamte Hand ableitet. So lassen sich Überlastungen beim Clipsen, Stecken und Stopfen in der Montage wirksam vermeiden. Ein für die Chemiebranche typischer Anwendungsfall ist das Pipettieren.
Studien und Erfahrungen zur Wirksamkeit und Akzeptanz
Zahlreiche Arbeitsbereiche der Chemieindustrie, vor allem in der Wartung sowie beim Verpacken, Kommissionieren, Lagern und Transportieren, sind durch komplexe und dynamische körperliche Prozesse charakterisiert. Die Möglichkeiten der Automatisierung stoßen in diesen Bereichen schnell an ihre Grenzen. Der Mensch und die damit verbundene körperliche Arbeit und die Belastungen für das Muskel-Skelett-System, bleiben unverzichtbar.
Um körperliche Belastungen zu mindern oder ganz zu beseitigen, stehen nach dem etablierten „TOP-Prinzip“ des Arbeitsschutzes eine Hierarchie von technischen, organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen zur Verfügung.
Exoskelette als personenbezogene Maßnahmen wurde in den letzten Jahren in zahlreichen industriellen Pilotprojekten erfolgreich getestet und eingeführt. Viele dieser Projekte wurden von wissenschaftlichen Studien begleitet. Auch Ottobock hat mit Partnern von Industrie- und Logistikunternehmen solche Studien durchgeführt. Die wissenschaftliche Begleitung fand dabei unter anderem durch die Hochschulen Göttingen, Tübingen und die Sporthochschule Köln statt.
Umfangreiche Tests fanden zuletzt beim Logistikunternehmen DB Schenker statt, wo es insbesondere um die Containerentladung und Set-Bildung von Komponenten ging. Ziel war die Analyse der physischen Belastungen. Dazu wurden die Arbeitsbewegungen mit Sensoren erfasst und Vergleichsmessung mit und ohne Exoskelett durchgeführt. Zum Einsatz kam die Messtechnologien der MotionMiners. Über die Ergebnisse zeigt sich Gerald Müller, Vice President Industrial Engineering bei DB Schenker, erfreut: „Wir haben nun belastbare Daten, die auf den positiven Einfluss von Exoskeletten bei den ausgewählten Bewegungsabläufen hinweisen.“
Beim Einsatz von Exoskeletten konnten unter anderem folgende Potenziale bestätigt werden:
- Reduktion von Ausfalltagen
- Verbesserung der Körperhaltung
- Effektiver Einsatz im Vergleich zu Manipulatoren oder anderen Hilfsmitteln, die von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht akzeptiert werden
- Steigerung der Produktivität
Steigerung der Attraktivität der Arbeitsplätze im Vergleich zum Wettbewerb
Die Erfahrung zeigt, dass die Art der Einführung und die Schulungsmaßnahmen einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg von Exoskeletten haben.
Um genau die Phase der Konzeption und der Implementierung des Einsatzes von Exoskeletten zu optimieren, hat Ottobock ein System von sogenannten „Experience Paketen“ entwickelt. Diese ermöglichen interessierten Unternehmen die Produkte in einer Testphase über mehrere Wochen zu nutzen. Diese Phase wird von Experten des Anbieters eng begleitet und mit einer ganzen Reihe bewährter Tests sowie von Befragungen vor, während und nach den Tests ausgewertet. Dabei werden alle Stakeholder des Betriebs, d. h. vor allem die Bediener, die Unternehmensleitung und Betriebsräte von Anfang an in den Implementierungsprozess einbezogen. So ist es möglich, die Bedürfnisse aller Beteiligten in ein schlüssiges Gesamtkonzept zu integrieren.
Diese Gesamtlösung gilt es dann durch geeignete Schulungs- und Dokumentationsmaßnahme zu unterstützen. David Duwe von Ottobock Bionic Exoskeletons erklärt dazu: „Ein Schlüsselfaktor ist es, dass Exoskelette einfach zu handhaben sind. Unsere Antwort darauf ist ein eigens entwickeltes Usability-Konzept, bei dem Farben und Piktogramme den Anwenderinnen und Anwendern dabei helfen, unsere Exoskelette anzuziehen und in Betrieb zu nehmen. Darüber hinaus arbeiten wir mit Schulungen und Erklärvideos, um eine reibungslose Einführung zu gewährleisten.“
Durch das kompetente Heranführen an Tätigkeiten mit Exoskeletten genießt die Technologie schnell eine hohe Akzeptanz bei den Nutzerinnen und Nutzern. So leisten Exoskelette einen nachhaltig wirksamen Beitrag, um Tätigkeiten mit spezifischen körperlichen Belastungen gesünder und produktiver zu gestalten.
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