06.12.2021 • PraxisberichteCITplusCITplus 12/2021Dechema

Der Faktor Mensch bei der Sicherheit chemischer Anlagen

Die Sicherheit einer chemischen Anlage hängt einerseits von technischen Einrichtungen und andererseits von Entscheidungen der handelnden Personen ab. Beides, Mensch und Prozess sind daher beim Aufbau der ­Sicherheitsbausteine zu betrachten.

© Soonthorn - stock.adobe.com
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Das neue Dechema-Seminar behandelt Lücken, die das risikobasierte Process Safety Management hinterlässt und durch die es überproportional viele Ereignisse aus vermeintlich ‚einfachen‘ Gründen gibt. Aus der Veranstaltung im September konnten die Teilnehmenden pragmatische Hilfen und Werkzeuge mitnehmen, die in der Praxis zum Verhindern von Ereignissen beitragen und die sich damit positiv auf Sicherheit, Effizienz und Effektivität auswirken.

Schwere Anlagensicherheitsereignisse sind selten, haben aber gravierende Folgen. Weniger gravierend, aber dafür häufiger und in Summe genauso gefährlich und teuer sind Stoffaustritte oder Verlust der Prozesskontrolle. Störfälle und häufigere Beinahe-Ereignisse haben heute eine Hauptursache: „Human Factor“ – Fehler der handelnden und der führenden Menschen. Risikoanalysen wie PAAG/HAZOP und LOPA gehen diesen menschlichen Fehlern offensichtlich zu wenig auf den Grund. Um Menschen das Fehlermachen schwer zu machen, helfen praktische Technikelemente und bessere Kommunikation. Das Seminar lieferte drei Ansätze für die verantwortungsvolle Betriebsführung, wovon zwei auf den Ergebnissen von Arbeitsgruppen des EPSC – European Process Safety Center beruhen:

  • Praxisgerechte Grundregeln als elementarer Sicherheitsbaustein (EPSC Fundamentals)
  • Sicherheitsoptimierte Gestaltung technischer Gerätschaften und ­Vorgehensweisen (EPSC Best Practices)
  • Effektives Kommunizieren und Fehler vermeidendes Arbeiten im Team (nobody is perfect, but a team can be)

Anlagensicherheit und Arbeitssicherheit gehören zusammen

In der Einführung gab Dr. Hans V. Schwarz einen Einblick über Ereignisse mit schwerwiegenden Auswirkungen der letzten Dekade. Der langjährige Verantwortliche für die Anlagensicherheit bei BASF, leitet heute das Beratungsunternehmen ProsafeX und ist auch für TÜV SÜD Chemie Service im Bereich Prozesssicherheit tätig. „Zwar gibt es eigentlich schon für alle Praktiken Regeln, aber diese werden nicht immer und überall angewandt“, betonte Schwarz zu Beginn des Onlineseminars. Häufig sind es menschliche Fehler, die unfreiwillig geschehen oder die in manchen Fällen sogar bewusst, aus vermeintlich guten Gründen, mit einer situationsbedingten Grenzüberschreitung einher gehen. Mit Eindrücken aus diesen Beispielen waren die Teilnehmenden zum Ende des ersten Seminartags aufgefordert, sich Ereignisse oder Beinahe-Ereignisse aus ihrem betrieblichen Umfeld zu suchen. Diese wurden in den nächsten Seminartagen analysiert und besprochen, um daraus Erkenntnisse zur Vermeidung abzuleiten.

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Das Seminar holt bereits mit der Materie vertraute Teilnehmer dort ab, wo Sicherheitsthemen im Betriebsalltag relevant sind. Der Kurs vermittelt auf didaktisch wertvolle Art die technischen sowie psychologischen Kenntnisse, um die Kursinhalte im eigenen Unternehmen implementieren zu können. Für Führungskräfte im Bereich der chemischen Prozess­sicherheit ist dieser durchwegs anspruchsvolle Kurs auf jeden Fall sehr zu empfehlen.

Stefan Vergeiner, Unterweger, Österreich

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Der Mensch ist ein Fehlerwesen

Dr.-Ing. Robert Kirchner ist Chemieingenieur und nicht nur Experte für Risikoanalyse, sondern auch für die menschlichen Aspekte von Fehlern im Betrieb. Er befasste sich im Seminar damit, wie Ereignisse durch eine gute Kommunikation und effektive Führung zu vermeiden sind. In komplexen Situationen kann es besonders schwierig sein, den Überblick zu behalten und rationale Entscheidungen zu treffen. Gefühle beeinflussen das Denken und dies wiederrum die Entscheidungen. Um Fehler zu vermeiden, ist es zwingend erforderlich, die vorhergehenden Fehler aus bereits geschehenen Ereignissen besser zu verstehen. Denn viele Ereignisse haben die Ursache in der betrieblichen Kommunikation, die sich mit einfachen Tools verbessern lässt.

Anlagensicherheit ist keine rein technische Disziplin

Auf Basis der gestellten „Hausaufgaben“ konnten die Teilnehmenden ihre realen Ereignisse analysieren und in Übungen die Kommunikation verbessern. In der Praxis gilt es, Fehler zu identifizieren und daraus langfristig tragbare Änderungen herbeizuführen. Schnellschüsse sind zu vermeiden. Für Führungspersonen ist es wichtig, auch in sich selbst hineinzuhören und die eigene Kommunikation zu hinterfragen. Denn eine Aussage kann mehr enthalten als nur die Sachbotschaft. Auch Beziehungsaspekte, Selbstkundgebungen und Appelle können darin verschlüsselt sein, die das Gegenüber beeinflussen.

Technische Ebene – Risikoanalyse und Risikoansatz

Um Anlagensicherheitsereignisse zu vermeiden, kann man risikobasiert oder regelbasiert vorgehen. Die regelbasierte Vorgehensweise gilt als sinnvolle Ergänzung und wird in den EPSC Fundamentals zusammengefasst. Die Referenten stellten sie als Grundlagen der Sicherheit im Anlagenbetrieb vor. Die Anwendung dieser Regeln senkt das Risiko und in einer Übung konnten die Teilnehmenden „ihre“ Ereignisse auf die Anwendung der EPSC Fundamentals hin analysieren. Schließlich ergab sich für die Teilnehmenden aus der genauen Betrachtung der Kommunikationsebene und der technischen Ebene ein vollständiges Bild der Fehleranalyse.

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Das Online-Seminar hat mir einen guten Einblick in die Grundregeln der Prozesssicherheit gegeben. Viele davon habe ich im täglichen Arbeits­umfeld wieder gefunden und auch die aufgezeigten best practices, kann man gut verwenden. Darüber hinaus hat es mir sehr gefallen gemeinsam mit den Teilnehmern über die Umsetzung des vermittelten Wissens im eigenen Betrieb zu diskutieren, da wir doch alle ähnliche Schwierigkeiten haben, sei es Großkonzern oder mittelständisches Unternehmen.

Michael Werth, PCK Raffinerie, Schwedt/Oder

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© chitsanupong - stock.adobe.com
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Moderne Lösungen für eine größere ­Anlagensicherheit

Schwarz stellte im Seminar auch moderne technische Lösungen für mehr Sicherheit im Anlagenbetrieb vor. Diese sind oft einfache, aber hilfreiche Vorgehensweisen, die ursprünglich von Betriebsmannschaften vorgeschlagen wurden. Dazu gehören jedoch auch eine umfangreiche Sensorik, intelligente Prozessleitsysteme sowie digitale Werkzeuge wie der Digital Twin oder KI. Doch bei aller Technik bleibt die Frage: Hat der Mensch im richtigen Moment die richtige und vor allem vollständige Information? Und hat er auch ausreichend Zeit und Handlungsspielraum, sie zu nutzen? An den Beispielen der Teilnehmenden wurde deutlich, dass menschliche Aspekte wie Belastbarkeit, Besserwisserei oder Missverständnisse zu Fehlern führen können.

Im weiteren Verlauf des Seminars konnten die Teilnehmenden Wege zur Einführung der EPSC Fundamentals in ihrem Unternehmen kennenlernen. Die Regeln und Grundsätze nach EPSC verlangen häufig eine Anpassung an die Gegebenheiten des Betriebs. Es ist wichtig alle betroffenen Mitarbeiter auf diesem Weg mitzunehmen und ein offenes Klima zu schaffen. Darauf aufbauend können klare Vereinbarungen und Vorgehensweisen festgelegt werden. An zahlreichen Beispielen aus der Erfahrung der Referenten wurden kleinere und größere Fehler aufgezeigt und daraus Lösungswege zur Vermeidung in Gruppenarbeit abgeleitet. Nach den technischen Lösungen hatten die Teilnehmenden Gelegenheit, die angemessen Kommunikation als Führungskraft in Bezug zu den gegebenen Beispielen zu diskutieren. Im Schlussteil des Seminars gab Schwarz eine Einführung in HAZOP/PAAG, LOPA und Funktionalen Sicherheit zur Ermittlung von Anlagenrisiken. Kirchner erläuterte, wie mit verbesserter Kommunkation HAZOP/LOPA-Sitzungen beschleunigt werden können, bei gleichzeitig verbesserter Qualität der Ergebnisse.

Auch im nächsten Jahr werden die Referenten wieder dieses mehrtägige Seminar bei der Dechema online und als Praxisworkshop vor Ort anbieten. Es richtet sich an Praktiker mit Erfahrung in der Betriebsleitung und Führungsrollen im Betrieb, Sicherheitsexperten, Sicherheitsverantwortliche, Manager im Produktions- und Standortmanagement.

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Das Seminar Prozesssicherheit der ­Dechema schiebt bei aller Komplexität die „Funda­mentals“ für Prozess­sicherheit in den Vordergrund und zeigt, dass trotz fortschreitender Digitalisierung immer noch der Mitarbeitende essenzieller Teil der ­Anlagensicherheit sein muss.

Dr. Michael Linden, EHS Manager bei Roche in Penzberg

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Kurzinterview mit Dr.-Ing. Robert Kirchner,  selbständiger Berater u.a. im Bereich Anlagensicherheit mit Spezialgebiet Sicherheitspsychologie, Inhaber des Unternehmens Verfahrens- & Umwelttechnik Kirchner und Dr. Hans Volkmar Schwarz, er leitet das Beratungsunternehmen ProsafeX und ist auch für TÜV Süd Chemie Service im Bereich Prozess­sicherheit tätig.

Welches sind die Key-Faktoren, die das Risiko für sicherheitsrelevante Fehler senken?

KirchnerDr.-Ing. Robert Kirchner

  • Respekt vor den Gefahren
  • Wissen, was gefährlich ist und warum
  • Offene Kommunikation über Sicherheitslücken muss möglich sein
  • Routinemäßige automatisierte sichere Vorgehensweisen

Volkmar SchwrzDr. Hans Volkmar Schwarz

  • Beachtung einiger pragmatischer Grundregeln und ‚best practises‘
  • Gute Kommunikation im Betrieb
  • Einbindung aller Mitarbeiter
  • Solides Risikomanagement

Wie sehr können technische Tools das Risiko für menschliche Fehler senken? Welche Prognose gibt es dazu mit Blick auf neue Werkzeuge wie KI?

Kirchner Wo der Mensch durch Technik ersetzt wird, kann er keine Fehler machen. Damit verschiebt sich die Eingriffsebene für den Menschen, statt handwerklicher Fehler treten nun Planungsfehler auf. Entscheidend ist, ob Menschen, auf der Ebene, auf der sie noch eingreifen, sachgerecht und motiviert arbeiten können oder ob Stress und Druck das verhindert.

Volkmar SchwrzTechnische Sicherheitseinrichtungen auf dem ‚Stand der Technik‘ sind immens wichtig. Zur Vermeidung von Unfällen mit einfachen Ursachen im Bereich des menschlichen Handelns sind Grundregeln und ‚best practises‘ nützlich, die mit tragbaren Endgeräten, Sensorik und KI oft unterstützt werden können. Auch die  Kommunikation kann z.B. mit Hilfe von Tablets unterstützt werden.

Warum sollten Betriebsingenieure das Seminar besuchen?

KirchnerBetriebsingenieure sind hautnah dabei, wenn Anlagen gewartet oder umgebaut werden, also auch bei vielen sicherheitsrelevanten Eingriffen. Im Seminar lernen sie, welche Dinge sich europaweit bewährt haben und wie sie Verbesserungsvorschläge und Probleme und wirkungsvoll kommunizieren.

 

Volkmar SchwrzDas Seminar vermittelt einen pragmatischen Blick und praktische Hilfsmittel zur Ereignisvermeidung, die den Führungskräften in Betrieb und Technik direkt anwendbare Werkzeuge an die Hand geben.

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Dechema-Seminar-Termine 2022

Weiterbildung für die Praxis – das ist Kern der Dechema-Kurse und Seminare für Chemiker, Ingenieure, Biotechnologen und Werkstoffwissenschaftler. Das umfangreiche Weiterbildungsangebot des Dechema-Forschungsinstituts trägt dazu bei, Kenntnislücken zu schließen, frühzeitig zukunftsweisende Entwicklungen aufzuzeigen und neue Methoden in die industrielle ­Praxis zu transferieren.

„Prozesssicherheit: Praktische Betriebs- und Führungswerkzeuge zur Störfallvermeidung“

  • Online-Seminar (4 x 0,5 Tage), 23./24.03. und 30./31.03.2022
  • Praxis-Workshop in Frankfurt am Main (2 Tage), 05.–06.10.2022

Weitere Informationen und Anmeldung unter: www.dechema-dfi.de/kurse oder [email protected]

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