09.05.2022 • PraxisberichteProfibusProfibus & ProfinetPNO

MTP-Prozessmodule in der Prozessindustrie schneller und flexibler integrieren

Aus Sicht der Automatisierung ist die schnelle und flexible Einbindung von Prozessmodulen und Package Units in vorhandene Automatisierungsstrukturen in der Prozessindustrie immer noch herausfordernd. Abhilfe schafft das MTP-Konzept (Module-Type-Package-Konzept), das seit dem vergangenen Herbst von PI gehostet wird.

© Desizned/Shutterstock.com/PNO
© Desizned/Shutterstock.com/PNO

Schon längst äußern nicht nur die Pharmaindus­trie und Feinchemie den Wunsch nach modularen Anlagen und einer flexibleren Automatisierung. Diese Branchen müssen und wollen schneller auf neue Marktanforderungen reagieren. Auch der Schiffsbau, die Wasserstoffindus­trie, die In­­tralogistik und die Prozessanalysenmesstechnik interessieren sich für neue Konzepte zur flexi­blen und schnellen Integration von Ag­­gregaten, Package Units oder Prozessmodulen.

Seit 2014 arbeiten daher der ZVEI und NAMUR gemeinsam an einem Konzept zur herstellerübergreifenden Einbindung und Orches­trierung von intelligenten, weitgehend autonomen Prozessmodulen in einer übergeordneten Automatisierungsebene, dem sogenannten Process Orchestration Layer. In der Richtlinie VDI/VDE/NAMUR 2658 wird hierzu das Konzept der modularen Automation beschrieben, bestehend aus standardisierten Schnittstellenelementen und deren semantische Beschreibung im Module Type Package (MTP). Damit ist erstmals eine Integration der intelligenten, autonomen Einheiten in die orchestrierenden Systeme auf Applikationsebene möglich. MTPs enthalten eine herstellerneutrale, funktionale Beschreibung, mit der sich Prozessmodule in die Orchestrierungsebene integrieren lassen. Dies können konventionelle Prozessleitsysteme sein, denkbar ist aber auch eine flexible Kopplung an weitere IT-Systeme, wie die Einbindung von MES, ERP, LIMS oder Datenbanken. Anwender schätzen, dass sich mit dem MTP-Konzepts 50 bis 70 % der Aufwände im Anlagen-Engineering einsparen lassen.

Leichtere Integration

In der Richtlinie wird das allgemeine MTP-Konzept durch die Definition von Schnittstellen für die auszutauschenden Daten präzisiert. Diese werden in gemeinsamen Arbeitsgruppen von Anlagenbetreibern, Maschinenbauern und Automatisierungslieferanten entwickelt. Dazu gehören etwa:

  • die automatische Erzeugung und Inte­gration von Bedienbildern der intelligenten, autonomen Einheiten in das anlagenweite HMI und Schnittstellen,
  • die Orchestrierbarkeit der von den autonomen Einheiten bereitgestellten Funktionen, um auf der Anlage ein gewünschtes Produkt herzustellen,
  • die Integration der Alarme und Meldungen der autonomen Einheiten in ein übergeordnetes, anlagenweites Alarmsystem,
  • Integration von Diagnose- und Life-­Cycle-Informationen aus den autonomen Einheiten in ein übergeordnetes Diagnose- oder Asset-Management-System.

Herstellneutrale Beschreibung

Für jeden der oben genannten Aspekte spezifiziert die VDI/VDE/NAMUR 2658 Schnittstellenelemente und AutomationML-Klassen zur semantischen Beschreibung des Prozessmoduls auf Applikationsebene. Aus dem Katalog dieser Schnittstellenelemente baut der Maschinenbauer die konkrete Laufzeitschnittstelle seines Prozessmoduls auf. Als unterlagerte Kommunikationstechnologie wird OPC UA eingesetzt. Mit den in der Richtlinie definierten AutomationML-Objekten beschreibt der Maschinenbauer die konkrete Schnittstelle seines Prozessmoduls für die einzelnen Aspekte HMI, Funktionalität, Alarme und Diagnose auf Applikationsebene.

Für das HMI (Human Machine Interface) entscheidet der Maschinenbauer bspw., welche Einzelsteuerelemente auf den Bedienbildern des Prozessmoduls im überlagerten System sichtbar sein sollen. So hat z.B. ein Stellventil einerseits eine standardisierte Laufzeitschnittstelle. Andererseits kann das Stellventil auf einem oder mehreren Bedienbildern platziert und mit grafischen Elementen verbunden werden. Die Repräsentationen des Ventils in den Bedienbildern werden herstellerneutral im MTP beschrieben.

 

Modulare Produktion ist eine wichtige Strategie, um in der Industrie 4.0 die...
Modulare Produktion ist eine wichtige Strategie, um in der Industrie 4.0 die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen der Prozessindustrie zu erhalten. © Namur

Plug & Play-Szenarien werden Realität

Neben dem Namen, einer Beschreibung, den Parametern und deren Metainformationen wie Engineering-Einheiten und Grenzen können im MTP auch Verweise auf Standards angegeben werden, die die Funktion eindeutig beschreiben. Mit den Informationen im MTP können die Funktionen der Maschinen innerhalb der Anlage somit orchestriert werden.
Der Anlagenbetreiber nutzt die Module Type Packages, um die autonomen Prozessmodule in den übergeordneten SCADA, DCS-, Batch- oder MES-Systemen zu einer Anlage zu orchestrieren. Die Orchestrierung wird auf eine semantische Ebene gehoben und ermöglicht die Realisierung von Plug & Operate-Szenarien auch in genehmigungspflichtigen Industrien.

PI (Profibus & Profinet International) als Host

Bereits jetzt gibt es erfolgreiche Pilotprojekte unter anderem bei BASF, Bayer, Evonik und Merck. Pilotprojekte in der Intralogistik, dem Schiffsbau oder der Nahrungsmittelindustrie zeigen, dass das Konzept der modularen Automatisierung mit MTP auch in anderen Indus­trien große Zeit- und Kostenvorteile eröffnet. Um das Konzept auch international voranzutreiben, kümmert sich PI künftig um die weitere Standardisierung. PI fällt zudem die Aufgabe zu, die Rechte an MTP zu managen, MTP-Produkte zu zertifizieren und das Konzept zu vermarkten.

Als Host Organisation vertritt PI ein weltweites Netzwerk von Automatisierungstechnik-Herstellern und -Anwendern. PI bringt damit sehr viel Erfahrung in Bezug auf internationale Normierungstätigkeiten mit, so dass schon bald signifikante Fortschritte in der internationalen Normierung erreicht werden sollen. Weiter gehören u.a. die Entwicklung von Conformance-Tests aber auch Trainingsangebote für Anwender und Hersteller dazu. Weitere wichtige Aufgaben sind zudem die verantwortliche Übernahme und Absicherung des IP Managements aller beteiligten Player und die Vorbereitung eines Zertifizierungsprozesses. PI wird nun die entsprechenden Working Groups einrichten und die Arbeiten an MTP aufnehmen.

Autor: Mathias Maurmaier, Senior Key Expert und Anwendungsingenieur, Siemens

 

Interview zum Thema MTP mit Jens Bernshausen, Bayer

Jens Bernshausen, Technischer Betriebsleiter, Bayer © Bayer
Jens Bernshausen, Technischer Betriebsleiter, Bayer © Bayer

„Internationale Standardisierung vorantreiben“

Die ersten MTP-Pilotprojekte sind positiv verlaufen, nun müssen für die breite Markteinführung der ­modularen Automatisierung mittels MTP in der Prozessindustrie sowohl auf der Anwender- als auch auf der Herstellerseite weitere Themen bearbeitet werden. Dies bedarf einer von Anwendern und Herstellern gemeinsam, eng aufeinander abgestimmten Anstrengung, wie Dr. Jens Bernshausen, ­Leiter des Namur-­Arbeitskreises 1.12. Module/Plug and Produce, verdeutlicht.

Was sind aus Anwendersicht die wichtigsten Aufgaben?

Jens Bernshausen: Wesentlich ist es, die Standardisierung weiter voranzutreiben und die einzelnen, noch in Bearbeitung befindlichen Blätter des MTP-Standards VDI/VDE/NAMUR 2658 zeitnah abzuschließen. Die MTP-Core Specification bildet den Mindestumfang an Funktionalität ab, den wir benötigen, um das MTP in unseren Anlagen zu verwenden. Diese umfasst neben den in Finalisierung befindlichen Spezifikationen zusätzlich noch die Aspekte „Funktionale Sicherheit“ und „Alarmmanagement“. Diese Core Specification sollte danach zügig im Rahmen der IEC in einen internationalen Standard überführt werden, um die breitere Anwendbarkeit zu gewährleisten. Nur so ist eine starke internationale Marktdurchdringung der MTP-Technologie möglich.

Welche Arbeiten stehen neben der Standardisierung noch an?

J. Bernshausen: Dazu gehört die intensive Abstimmung mit den zukünftigen Nutzern innerhalb und außerhalb der Prozessindustrie. Diese sind beispielsweise Anwendergremien wie das Biophorum, die ISPE und die OPAF. Wichtig ist es aber auch, mit den „Modul-Lieferanten“ (OEMs), also den Herstellern von Prozessmodulen zu erarbeiten, inwieweit diese ihre Prozesseinheiten kurzfristig mit der MTP-Technologie ausstatten beziehungsweise ergänzen können. Dies wird uns umso eher gelingen, wenn wir als Anwender das MTP bereits jetzt als Standardschnittstelle in unseren Ausschreibungen zum Thema machen.

Wo liegt derzeit die größte Herausforderung?

J. Bernshausen: Wir wünschen uns, dass die MTP-Funktionalität schnellstmöglich Einzug in unsere Automatisierungssysteme erhält und auch für unsere Brownfield-Anlagen nutzbar wird. Leider sehen wir hier zur Zeit eher einen anderen Trend. Seitens der Lieferanten steht die MTP-Funktionalität erst für die kommende Generation von Leitsystemen auf der Entwicklungs-Roadmap. Da wir in der Prozessindustrie bekanntermaßen Systemlebenszyklen von 15 und mehr Jahren vorfinden, bedeutet dies für uns, dass wir in unseren bestehenden Anlagen die MTP-Technologie nicht verwenden können. Es sei denn, wir migrieren die in Betrieb befindlichen Automatisierungssysteme aufwendig. Das MTP-Konzept ließe sich folglich nur bei Neuanlagen (Greenfield) einsetzen.

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