Bakterien gegen Welthunger und Klimawandel
Calidris Bio verfolgt den Ansatz eine wachsende Bevölkerung nachhaltig mit hochwertigen Proteinen zu ernähren. Das mikrobiologische Verfahren schont die Ressourcen.
Eine der wesentlichen Fragen des 21. Jahrhunderts ist: Wie können wir die wachsende Weltbevölkerung ernähren und gleichzeitig den Klimawandel bremsen? Die Antwort auf diese Frage hat einen wesentlichen Einfluss auf Ökologie, Ökonomie und Klima und ist deshalb Inhalt zahlreicher Forschungsprojekte rund um Future Food und In-vitro-Fleisch. Besonders aussichtsreich sind Ansätze, die auf Mikroorganismen basieren. Das Antwerpener Start-up Calidris Bio setzt genau hier an.
Ziel des belgischen Unternehmens ist es, eine wachsende Bevölkerung auf möglichst nachhaltige Weise mit einem hochwertigen Protein zu ernähren, das mit einem geringen ökologischen Fußabdruck produziert wird. Die zugrundeliegende Technologie verbraucht weder Land noch Meeresressourcen und nur sehr wenig Wasser.
Lieve Hoflack, Mitgründerin von Calidris Bio, erläutert: „Eine Pflanze absorbiert CO2 aus der Luft, nutzt das Licht und entnimmt dem Boden Nährstoffe. Wir kopieren diesen Prozess, um Bakterien in einem Bioreaktor zu züchten, ohne dass dafür Landwirtschaft erforderlich ist. Das mikrobielle Produkt kann sofort im Tierfuttersektor eingesetzt werden. Wir arbeiten aber bereits daran, das Verfahren so anzupassen, dass es auch im Lebensmittelbereich eingesetzt werden kann. Eines Tages werden auch Menschen nahrhafte Bakterien essen, um ihren täglichen Proteinbedarf zu decken. Davon bin ich überzeugt.“
Neben kultiviertem Fleisch und pflanzlichen Proteinen wird mikrobielles Protein eine wichtige Säule zur Bewältigung des bevorstehenden Proteinmangels werden. Eiweißshakes scheinen eine vielversprechende Einsatzmöglichkeit zu sein, ebenso wie bestimmte Wurstsorten, Pasteten oder Burger Pattys.
Fermentation
Das Protein des Antwerpener Start-ups wird durch einen natürlichen Gärungsprozess hergestellt, ähnlich wie beim Bierbrauen. Beim Bierbrauen wird Malz verwendet. Malz enthält Zucker, der bei der Gärung in CO2 und Alkohol umgewandelt wird. Bei der Proteinherstellung wird der natürliche Fermentationsprozess mit CO2 und erneuerbarer Energie betrieben. Dazu werden Mikroorganismen in einem Bioreaktor oder Fermentationsgefäß gezüchtet, wo sie Substrate in Biomasse mit hohem Proteingehalt umwandeln. Nach der Fermentation wird diese proteinreiche Biomasse getrocknet und verarbeitet. Das Endprodukt sieht aus wie Bäckerhefe und enthält mindestens 65 % hochwertiges Eiweiß, ist reich an essenziellen Aminosäuren, Vitaminen, Präbiotika und speziellen Fettsäuren.
„Unsere Technologie hat nur minimale Auswirkungen auf die Landnutzung und die Meeresökosysteme. Auf diese Weise können wir unabhängig von der Jahreszeit eine große Menge an mikrobiellem Eiweiß auf einer kleinen Fläche produzieren. Das ist letztlich unser Traum: in der Wüste auf der Basis von CO2 und Sonnenenergie eiweißreiche Nahrung herstellen zu können,“ sagt Lieve Hoflack.
Aus Luft und Nebenprodukten
Um zu wachsen, benötigen Mikroorganismen Bausteine wie Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Kohlenstoff sowie eine Energiequelle. Der Kohlenstoff kann dabei u. a. aus CO2 aus industriellen Prozessen bzw. direkt aus der Luft oder aus organischen Rückständen gewonnen werden. Als Energiequelle dient Wasserstoffgas. Lebensmittel, quasi aus Luft, d. h. auf der Grundlage von CO2 und Wasserstoff, herzustellen, ist damit keine Zukunftsvision mehr. Dabei hat die Technologie, die das Antwerpener Start-up verwendet, einen sehr geringen Wasserverbrauch, denn im Gegensatz etwa zu Soja und vor allem zur Viehzucht benötigt die Produktion von mikrobiellem Eiweiß kaum Wasser.
Die Ressourcennutzung und Synergieeffekte spielten bei der Standortwahl des Unternehmens eine entscheidende Rolle. Neben den Offshore-Windparks im Hafengebiet der Stadt Antwerpen, die Calidris Bio mit erneuerbarer Energie versorgen, befindet sich in direkter Nachbarschaft der größte Chemiecluster Europas. Im Rahmen der Produktion fällt ausreichend CO2 an, das abgeschieden und über Pipelines in die Proteinproduktion eingespeist werden kann.
Neue Einsatzmöglichkeiten
Das Konzept, essbare Bakterien zu kultivieren, gibt es schon länger. Erste Fabriken, die als Nahrung für Mikroorganismen Zellulose aus Holz, Stroh und Restprodukten aus der Erdölraffination verwendeten, gab es bereits in den 1960er und 1970er Jahren. Das mikrobielle Protein konnte sich damals aber nicht durchsetzen, insbesondere aufgrund der günstigen Soja-Preise. Inzwischen fließen bei Produzenten und Konsumenten gleichermaßen neben dem monetären Preis auch Klimaschutz und Tierwohl in Entscheidungsprozesse ein.
Im Jahr 2021 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Deutschland 17 % mehr Fleischersatzprodukte produziert als im Vorjahr, im Vergleich zum Jahr 2019 sind es sogar 62 %. Pflanzliche Proteine sind als Alternative zu tierischen Proteinen damit deutlich auf dem Vormarsch. Aber auch sie brauchen Boden, Wasser und Dünger. Mikroorganismen hingegen wachsen schnell und produzieren innerhalb von Stunden bis zu einem Tag mehrere Kilogramm Eiweiß pro Kubikmeter. Pflanzen und Tiere brauchen dafür Wochen. Infolgedessen benötigt man für die gleiche Proteinproduktion in der Fabrik viele hundert Mal weniger Land.
Klimaschonendes Future Food
Die Frage ist nicht, ob sich mikrobielles Protein in der menschlichen Ernährung durchsetzen wird, sondern wann es sich in Zutatenlisten von Fleischersatzprodukten wiederfinden wird. Natürlich spielen die europäischen Rechtsvorschriften über neuartige Lebensmittel hier eine wichtige Rolle. Bisher werden mikrobielle Proteine vornehmlich als Ersatz für Soja und Fischmehl bei ökologischem Tierfutter eingesetzt, da hier die Vorschriften weniger streng sind. Doch auch in Lebensmitteln finden sich schon heute Mikroorganismen, z. B. in Joghurt oder in flaschengärendem Bier. Auch auf Pilzen basierende Fleischersatzprodukte existieren bereits auf dem Markt.
„Da das Pulver geschmacks- und geruchsneutral ist, kann man im Prinzip alles damit machen. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass Reaktorbehälter mit Bakterien nicht die gesamte Landwirtschaft ersetzen können. Hier geht es um sinnvolle Ergänzung, nicht um vollständige Substitution. Schließlich wollen die Menschen auch etwas Leckeres auf den Teller bekommen, mit einer schönen Textur und einem guten Geschmack. Ein Eiweiß kann nahrhaft sein, aber sein Nutzen hängt von viel mehr ab“, sagt Lieve Hoflack.
Um herauszufinden, welche Bakterien natürliche Farbstoffe, gesundheitsfördernde Präbiotika oder eine faserige Textur in das Produkt einbringen könnten, experimentiert Calidris Bio auch mit verschiedenen Mikroorganismen und unterschiedlichen Verarbeitungstechniken. In den ersten Jahren will sich das Unternehmen noch auf nachhaltiges ökologisches Tierfutter konzentrieren. Längerfristig möchte das Start-up sein Protein für den menschlichen Verzehr produzieren und auf diesem Weg wesentliche Aspekte der Nachhaltigkeit und Tiergesundheit zur Frage der Ernährung der Zukunft beisteuern.
Autorin: Nadine Groß, PR-Fachjournalistin Chemie und Logistik, Berlin
______________________
Antwerpen – City of Start-Ups
Calidris Bio hat sich 2019 in Gent, Belgien, gegründet und ist im Jahr darauf nach Antwerpen gezogen. Das Start-Up hat dort gute Voraussetzungen für die Umsetzung seiner Vision gefunden. Die Stadt selbst fördert junge Unternehmen, etwa als Partner des Inkubators für nachhaltige Chemie, Bluechem. Auch Calidris Bio hat sich dort 2020 angesiedelt und von der dortigen Labor-Infrastruktur und Förderung profitiert. Darüber hinaus setzt das Unternehmen auf die Beschaffung von grüner Energie und Rohstoffen aus der Kreislaufwirtschaft über den Hafen Antwerpen-Brügge und sein Chemiecluster.