28.07.2021 • PraxisberichteAutomatisierungBarcodesBig Data

Digitale Resilienz in der Lebensmittelindustrie

Gegessen wird immer. Schon deshalb fällt die Lebensmittelindustrie auch in globalen Krisen durch eine große Widerstandsfähigkeit auf – im Fachjargon Resilienz genannt. Doch die Corona-Pandemie übt einen ganz neuen Druck auf die Branche aus. Eine entscheidende Zukunftsfrage lautet daher: Wie kann man die digitale Resi­lienz der Betriebe verbessern?
 
„Der größte Feind des Fortschritts ist nicht der Irrtum, sondern die Trägheit“, sagte der britische Historiker Henry Thomas Buckle. Für die Lebensmittelindustrie gilt dieser Satz ganz aktuell nicht. Gerade die Coronakrise beschleunigt massiv das Interesse an praxiserprobten Lösungen rund um die Digitalisierung. Das ist mit Sicherheit eine gute Nachricht – denn auch in Zukunft werden unerwartete Härtetests die Resilienz der Betriebe auf die Probe stellen.
 
Die IT muss liefern
 
Ein Blick auf die aktuelle Situation: Auch wenn die meisten Betriebe bisher gut durch die Krise gekommen sind, bleibt die Lage insgesamt angespannt. Vor allem im Gastronomiebereich sind die Umsätze sehr stark eingebrochen. Im LEH sieht es besser aus, doch längst nicht jeder Lieferant von Rewe, Edeka & Co. ist mit einem Umsatzplus in das Jahr gestartet. Dazu kommen die ganz alltäglichen Herausforderungen der Lebensmittelbetriebe: Lieferketten im Dauerstress, Fachkräftemangel und hohe Anforderungen an die Produktivität in einem wettbewerbsintensiven Umfeld. Und über allem schwebt ein Preisdruck, der sich einer neuen McKinsey-Studie mit dem Titel „Disruption and Uncertainty“ noch weiter verschärfen dürfte. Denn sowohl die Preissensibilität der Verbraucher als auch die Rohstoffpreise legen zu. 
 
Um die Resilienz und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe zu stärken, muss die IT und vor allem das ERP-System jetzt drei Dinge sicherstellen: 
  • Flexibilität: Die Unternehmen müssen sich durch digitale Technologien in die Lage versetzen, das Erwartete wie auch das Unerwartete effektiv zu bewältigen. Ihnen wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt, in den Opera­tions, aber auch in Bezug auf Planung und Prognose. 
     
  • Effizienz: Gerade in Just-in-Time-Märkten kommt es auf maximale Effizienz an – auf jeder Stufe des Wertschöpfungsprozesses. Die ohnehin kleinen Margen dürfen nicht durch ineffiziente, papierbasierte Abläufe im Shop­floor aufgefressen werden.
     
  • Transparenz: Ein vernünftiges Kennzahlensystem stellt sicher, dass Entscheider zu jeder Zeit das Richtige tun können. Dies kann auch bedeuten, Produkte mit einem negativen Deckungsbeitrag aus dem Sortiment zu nehmen. Ganz wichtig sind auch die Produktsicherheit und ein wirksames Rückverfolgungskonzept.
     
Digitale Resilienz dank integrierter IT-Systeme
 
Wie ist es denn tatsächlich um die digitale Resilienz der Betriebe bestellt? Gar nicht so schlecht, wie die Ergebnisse der CSB-Studie zu den Auswirkungen von Corona auf die Lebensmittelbranche zeigen. Demnach sind digitalisierte Lieferketten ein guter Schutz gegen Planungsunsicherheit oder Lieferverzögerungen. Wer in den vergangenen Jahren in die Integration und die Digitalisierung seiner Wertschöpfungsprozesse investiert hat, kann heute besser mit seinen Partnern zusammenarbeiten. 
 
Gerade die Unternehmen mit integrierten ERP-Systemen sehen sich auch in der Krise gut gerüstet, was Steuerung und Reaktionsfähigkeit ihres Betriebs betrifft: Vorteile bei der virtuellen Zusammenarbeit, Flexibilisierung und Agilisierung von Abläufen sowie eine schnelle und präzise Planung sind hier die wesentlichen Aspekte. 
 
So setzen in Produktion und Verwaltung schon je 51 % der Befragten, bei Reportings und Analytics schon 53 % auf integrierte Lösungen. Intelligente Systeme nutzt allerdings nur jedes zwanzigste Unternehmen, wobei eine Berücksichtigung der Daten vom Markt noch weitere vielversprechende Möglichkeiten bietet – insbesondere mit Blick auf ein verändertes Einkaufsverhalten der Konsumenten oder bei den Prozessen mit Lieferanten, dem Handel oder Kunden.
 
Digitalisierung ist Kernkompetenz
 
Das bisher erreichte darf jedoch kein Grund sein, die Digitalisierung des Betriebs nicht weiter intensiv voranzutreiben. Die Studienteilnehmer sind sich einig darin, dass die Digitalisierung zukünftig noch entscheidender wird für den Betrieb einer Fabrik und deren Resilienz im Krisenfall. Das Beherrschen digitaler Technologien wird damit immer mehr zu einer Kernkompetenz. Digitalisierte Prozesse vom Wareneingang über die Produktion, Verpackung und Lagerhaltung bis hin zur Auslieferung machen die Lebensmittelverarbeitung so flexibel, effizient und transparent wie möglich. 
 
Doch das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht. Das Ziel muss eine volle digitale Begleitung der Wertschöpfung sein, um Effizienz und Resilienz weiter zu verbessern. Digitale Lösungen von der Rohstoffbewertung bis zur Rückverfolgbarkeit zeigen dabei eine große Bandbreite:
Eine digitale Kontrolle und Steuerung der Rohstoffe im Wareneingang ermöglicht eine fortlaufende Bewertung der Lieferanten – ein wesentlicher Faktor im Umgang mit Naturprodukten, die keine standardisierte Qualität haben. 
 
Eine eindeutige Kennzeichnung und Identifikation mittels Barcodes, RFID-Chips, Sensoren und Bilderkennung sorgt für einen guten Überblick und eine lückenlose Dokumentation. Das ermöglicht gleichzeitig eine durchgängige Rückverfolgung, da die Daten von einem Verarbeitungsschritt zum nächsten elektronisch mitgeschleust werden.
 
Wenn Losgrößen in der Produktion kleiner werden, steigt die Anzahl der Auftragswechsel. Die Folge: Insgesamt längere Rüstzeiten, eine große Unsicherheit für die Produktions- und Personalplanung und ein zunehmender Druck auf die Produktivität. Eine softwaregestützte Produktions- und Prognoseplanung hilft, dem entgegenzuwirken.
 
Mit den richtigen, exakten und aktuellen Messgrößen sind die Entscheider in der Lage, die Performance zu kontrollieren, Probleme zu erkennen und gezielt einzugreifen, um das Tagesgeschäft weiter zu optimieren. Die Entwicklung hin zum digitalen Zwilling wird zu einer zusätzlichen Aufwertung der Kennzahlensysteme führen. 
 
Die digitale Optimierung des Lagers hilft bei der Vermeidung zu hoher Bestände, während gleichzeitig die rechtzeitige Nachbestellung gewährleistet ist.
Durch die Remoteüberwachung von Anlagen können Probleme vorweggenommen und erforderliche Wartungsarbeiten eingeplant werden. So werden die Ausfallzeiten minimiert und eine maximale Anlageneffektivität (OEE) erreicht.
 
ERP-Systeme können mit den Anlagen in Produktion oder Kommissionierung kommunizieren. Pick-by-Voice und Pick-by-Vision-Systeme leiten die Mitarbeiter zum richtigen Bereich im Lager und Lampen oder Zahlen signalisieren die exakte Position der Artikel.
 
Auch die Einführung von Automation und Robotik unterstützt die effektive Interak­tion von Daten- und Warenflüssen. Zahlreiche Food-Unternehmen haben bereits wegweisende Standards in der Intralogistik entwickelt, insbesondere bei automatisierten Produktions- und Verpackungsanlagen, automatischen Depalettierungsanlagen, Sortieranlagen sowie Hochregallagern für Paletten oder Einzelkisten.
 
Die Zukunft im Blick
 
Eins ist klar: Fertige, praxiserprobte Digitalisierungstechnologien werden schneller eingeführt als besonders aufsehenerregende Innovationen. Gleichzeitig unterliegen die heutigen Technologien einem stetigen Wandel und werden kontinuierlich weiterentwickelt. Wenn Unternehmen ein neues IT-System einführen, müssen sie also immer auch die Zukunft im Blick behalten. Künstliche Intelligenz (KI), das Internet der Dinge (IoT, Internet of Things), Big Data und Blockchain sind alles neue Entwicklungen, die jetzt noch am Anfang stehen, aber in den nächsten Jahren eine zentrale Rolle spielen werden. 
Im Übrigen gewinnt die KI zunehmend an Bedeutung in neuen Projekten. Um hiermit größtmögliche Vorteile zu erzielen ist es wichtig, diese auf den jeweiligen Anwendungsfall abzustimmen. Somit kann die KI zur Lösung einer konkreten Problemstellung beitragen oder individuelle Anforderungen erfüllen, wodurch sich klare wirtschaftliche Vorteile in Form von Umsatzsteigerungen und höheren Margen ergeben. 
 
Ein Beispiel für den wirtschaftlichen Einsatz von KI ist die Klassifizierung von Rohschinken mittels hochmoderner Bildverarbeitung. Das System ermittelt automatisiert die Fleischqualität und bestimmt daraufhin die ideale Verwendung des Schlachtkörpers, um einen optimalen Ertrag zu erzielen, oder es ermittelt dessen optimale Weiterverarbeitung in einem Fertigprodukt. 
 
Blickt man noch weiter in die Zukunft, könnten Pick-by-Voice- und Pick-by-Vision Systeme sowie andere BMI-Technologien bald durch die Einführung von „Brain-Interfaces“ ergänzt werden: über Elektroenzephalografie und holographische Anzeigen können die Bediener ihre Produktionsmaschinen im wahrsten Sinne des Wortes durch Gedankenübertragung steuern. All das wird – clever miteinander kombiniert – am Ende die Resilienz der Lebensmittelbranche auf ein noch höheres Level bringen.

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