Am Konzept der Personalisierten Ernährung führt in der Lebensmittelbranche kein Weg vorbei. Während die Wissenschaft mit Genetik, Nutrigenomik und vor allem mit der Mikrobiomforschung inzwischen schon viel „Know“ einbringt, scheint das „How“ in der Industrie noch am Anfang zu stehen. Personalisierte Ernährung praktisch umzusetzen – mit alltagstauglichen Analysetools und innovativen Produkten − ist eine Herausforderung für die Branche und Kernthema bei Newtrition X., dem Innovationsgipfel Personalisierte Ernährung.
Noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts war gesunde Ernährung kein Thema, das die Welt bewegt hätte. Doch nun erleben die Menschen in den Industrieländern die Schattenseiten des Wohlstands. Dass unsere Ernährung wesentlichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden hat, ist inzwischen im Bewusstsein der Verbraucher angekommen. Was gesunde Ernährung tatsächlich ausmacht, ist jedoch immer wieder Gegenstand von Diskussionen: Waren in den 70ern Rohkost und Vollkorn im Fokus, ist es in den 80ern die cholesterinarme Ernährung. Low Carb und Low GI (Glykämischer Index) sind seit Jahren Trend – und ganz aktuell Veganismus und die Paleo-Diät. Ebenso gelten derzeit gluten- und laktosefreie Nahrungsmittel unter Verbrauchern als gesündere Alternative, unabhängig von Diagnose oder Sinnhaftigkeit.
Offizielle Organe wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die British Nutrition Foundation oder das Office of Prevention and Health Promotion in den USA sollen Verbrauchern Orientierung bieten. Doch diese Säulen wackeln. Denn in der digitalen Welt informieren sich gesundheitsbewusste Verbraucher in unzähligen Internetforen oder bei selbsternannten Ernährungspäpsten, probieren Verschiedenes aus, kombinieren und entwickeln so ihren ganz persönlichen Ernährungsstil. Dabei folgen sie ihrem subjektiven Empfinden, welche Lebensmittel ihnen „gut tun“ und weniger den allgemeinen Empfehlungen. Joana Maricato, Head of Market Research bei New Nutrition Business und Referentin bei Newtrition X.: „Damit setzt sich die Erkenntnis durch, dass `one size fits all‘ nicht mehr die richtige Ernährungsform sein kann.“ Diese Entwicklung macht auch vor der Lebensmittelbranche nicht halt: Lebensmittel für einen Massenmarkt werden ergänzt durch ein breites Angebot an Nischenprodukten – von „free from“ Alternativen über vegane Produkte oder Superfoods bis hin zu proteinangereicherter Spezialnahrung für mehr Energie und Leistungsfähigkeit.
Individualität liegt in den Genen – und im Darm
Das Konzept der Personalisierten Ernährung erhält entscheidenden Antrieb aus Wissenschaft und Medizin. Allein die Anzahl der Studien über das Mikrobiom stieg zwischen 2002 und 2017 von nur zwei auf mehr als 2000. Ging man in der Forschung zunächst davon aus, dass die Gene entscheidend dafür sind, wie wir Nahrungsmittel verdauen, rückt inzwischen die bakterielle Wohngemeinschaft unseres Darms in den Mittelpunkt des Interesses.
2016 kam eine Studie am renommierten Weizmann Institute of Science (Israel) zu dem Ergebnis, dass der sogennante Jojo-Effekt nach einer diätbedingten Gewichtsreduktion nicht unbedingt nur durch einen gedrosselten Stoffwechsel bzw. zu viel Zucker, zu viel Fett und zu wenig Bewegung verursacht wird. Verantwortlich ist stattdessen eine spezifische Zusammensetzung des Mikrobioms. Eine randomisierte Crossover-Studie aus dem vergangenen Jahr bestätigte dessen Bedeutung: Die Probanden zeigten nach dem Verzehr derselben Nahrungsmittel völlig unterschiedliche Blutzuckerreaktionen. Anhand des Darmmikrobioms und der Blutzuckermessungen entwickelte die Forschungsgruppe einen Algorithmus, der die individuellen Reaktionen der Studienteilnehmer auf bestimmte Lebensmittel vorhersagen konnte. In Europa vertieft Food4me, ein gemeinsames Projekt verschiedener Universitäten, das Thema Personalisierte Ernährung im Hinblick auf die praktische Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Ernährungsmediziner Prof. Dr. Christian Sina, der aktuell in Lübeck an einer Studie zur Personalisierten Ernährung arbeitet, erklärt: „Die Gene allein liefern nur begrenzt Informationen über das individuelle Stoffwechselverhalten. Entscheidend ist vielmehr das funktionelle Mikrobiom. Über die Analyse des Darmmikrobioms lassen sich bereits heute Aussagen darüber treffen, wie der Stoffwechsel eines Menschen auf bestimmte Lebensmittel reagiert.“ Sinas Ansatz: Anhand des Darmmikrobioms definiert er drei verschiedene Stoffwechseltypen. Nach diesem Nutritypen-Modell sei die Lebensmittelindustrie in der Lage, die Personalisierte Ernährung effizient und schnell in ihre Anwendungsbereiche zu integrieren und den Kunden entsprechende Lösungen anzubieten. Im Rahmen von Newtrition X. stellt der Mediziner die ersten konkreten Möglichkeiten vor.
In der Praxis
Als junger Markt hat die Personalisierte Ernährung enormes Potenzial, und das Ziel ist klar definiert: Analysen von Biomarkern, Genetik und Mikrobiom liefern messbare Richtwerte als Grundlage für eine individualisierte gesunde Ernährung. Wie dieser Markt jedoch erschlossen werden kann, ist derzeit Gegenstand intensiver Diskussionen in der Branche. In jedem Fall braucht es ein Umdenken der Lebensmittelindustrie, fort von kostengünstig hergestellten Massenprodukten. Neben innovativen Start-ups sehen auch die Big Player der Branche das Konzept inzwischen als Markt der Zukunft: Nestlé gründete bereits 2011 unter Peter Brabeck-Letmathe Nestlé Health Science, mit dem Ziel, Strategien zur Personalisierten Ernährung zu entwickeln. Brabeck-Letmathe sieht das Konzept als Motor für die Branche: „Das Thema Gesundheit wird in den kommenden Jahrzehnten eine Innovationswelle in der Nahrungsmittelindustrie auslösen. Sie wird mit ihrer Spitzentechnologie eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Gesundheit ganzer Bevölkerungsgruppen spielen. Bei dieser auf Wissenschaft basierenden personalisierten Gesundheitsernährung geht es in Zukunft darum, effiziente und kostengünstige Wege zu finden, um akuten und chronischen Krankheiten des 21. Jahrhunderts vorzubeugen und sie zu behandeln“ (Zitat nach Peter Brabeck-Letmathe: Ernährung für ein besseres Leben. Frankfurt 2016, S. 15).
Als internationaler Innovationsgipfel beleuchtet Newtrition X. mit Peter Brabeck-Letmathe als Keynote Speaker die Personalisierte Ernährung interdisziplinär. Experten aus Medizin und Wissenschaft, Lebensmittelindustrie und Marktforschung referieren zum aktuellen Stand der Forschung, erläutern Verbrauchererwartungen und Marktpotenziale und stellen praktische Ansätze vor. Joana Maricato sieht die Weiterentwicklung der Personalisierten Ernährung als ‚trial-and-error‘ Experiment: „Noch steckt die Personalisierte Ernährung in den Kinderschuhen, und ihr Potenzial für die Lebensmittelbranche kann man nur erahnen.“
Newtrition X. – Innovationsgipfel Personalisierte Ernährung
Am 12. September 2018 lädt das Branchennetzwerk Foodregio Entscheider aus Lebensmittelindustrie und Handel zu einem eintägigen Symposium in das Veranstaltungszentrum Media Docks Lübeck ein. Referenten sind neben den oben genannten unter anderem Prof. Dr. Karsten Kristiansen (Molekularbiologie, Universität Kopenhagen), Dominik Burziwoda (Gründer und CEO, Perfood/MillionFriends), Rudi Schmidt (Konzernbereichsleiter Precision Medicine, Asklepios Kliniken) und Michael Gusko (Manging Director, GoodMills Innovation).
Anmeldung und weitere Informationen: www.foodregio.de/newtritionx